Full text: Sieben Bücher deutscher Dichtungen

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TTeue Zeit. Das zweite klassische Zeitalter. 
II. Jüngerer Zeitabschnitt. 
(1800—1830.) 
1. Die Gründer der romantischen Schule. 
Der Hexameter. 
Gleichwie sich dem, der die See durchschifft, auf offener Meereshöh' 
Rings Horizont ausdehnt, und der Ausblick nirgend umschränkt ist, 
Daß der umwölbende Himmel die Schar zahlloser Gestirne, 
Bei hell atmender Luft, abspiegelt iu bläulicher Tiefe: 
So auch trägt das Gemüt der Hexameter; ruhig umfassend 
Nimmt er des Epos Olymp, das gewaltige Bild, in den Schoß auf 
Kreisender Flut, urväterlich so den Geschlechtern der Rhythmen, 
Wie von Okeanos quellend, dem weit hinströmenden Herrscher, 
Alle Gewässer auf Erden entrieseln oder entbrausen. — 
Wie oft Seefahrt kaum vorrückt, inühvolleres Rudern 
Fortarbeitet das Schiff, dann Plötzlich der Wog' Abgründe 
Sturm aufwühlt, und den Kiel in den Wallungen schaukelnd dahinreißt: 
So kann erst bald ruh'n, bald flüchtiger wieder enteilen, 
Bald, o wie kühn in dem Schwung ! der Herameter, immer sich selbst gleich. 
Ob er zum Kampf des heroischen Lied's unermüdlich sich gürtet, 
Oder der Weisheit voll, Lehesprüche den Hörenden einprägt, 
Oder geselliger Hirten Jdyllien lieblich umflüstert. — 
Heil dir, Pfleger Homers! ehrwürdiger Mund der Orakel! 
Dein will ferner gedenken ich noch und andern Gesanges. 
A. W. v. Schlegel. 
Der heilige Lukas. 
Sankt Lukas sah ein Traumgesicht: 
„Geh'! mach' dich auf und zög're nicht, 
Das schönste Bild zu malen: 
Von deinen Händen aufgestellt, 
Soll einst der ganzen Christenwelt 
Die Mutter Gottes strahlen!" 
Er fährt vom Morgenschlaf empor, 
Noch tönt die Stimm' in seinem Ohr; 
Er rafft sich aus dem Bette, 
Nimmt seinen Mantel um und geht 
Mit Farbenkasten und Gerät 
Und Pinsel und Palette 
So wandert er mit stillem Tritt, 
Nun sieht er schon Mariens Hütt' 
Und klopfet an die Pforte. 
Er grüßt im Namen unsers Herrn, 
Sie öffnet und empfängt ihn gern 
Mit manchem holden Worte. 
„O Jungfrau, wende deine Gunst 
Auf mein bescheidnes Teil der Kunst, 
Die Gott mich üben lassen! 
Wie hoch gesegnet wär' sie nicht. 
Wenn ich dein heil'ges Angesicht 
Im Bildniß dürfte fassen!" — 
Sie sprach darauf demütiglich: 
„Ja, deine Hand erquickte mich 
Mit meines Sohnes Bilde. 
Er lächelt mir noch immer zu. 
Obschon erhöht zur Wonn' und Ruh' 
Der himmlischen Gefilde. 
Ich aber bin in Magdgeslalt, 
Die Erdenhülle sinkt nun bald, 
Die ich auch jung verachtet. 
Das Auge, welches alles sieht, 
Weiß, daß ich nie, um Schmuck bemüht, 
Im Spiegel mich betrachtet." — 
„Die Blüte, die dem Herrn gefiel, 
Ward nicht der flücht'gen Jahre Spiel, 
Holdseligste der Frauen! 
Du siehst allein der Schönheit Licht 
Auf deinem reinen Antlitz nicht; 
Doch laß es andre schauen. 
„Bedenke nur der Gläub'gen Trost, 
Wenn du der Erde längst entflohst, 
Vor deinem Bild zu beten. 
Einst tönt dir aller Zungen Pr is. 
Dir lallt das Kind, dir fleht der Greis, 
Sie droben zu vertreten." —
	        
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