Zweites Wuch.
Das erste klassische Zeitalter (1150 —1350).
I. Vas IlolKsepos.
1. Das Nibelungenlied.
Das Nibelungenlied, die „deutsche Ilias" genannt, stammt in seiner jetzigen Form ans
der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und behandelt auf dem Grunde aller Sagen und
Bo'ksgesänge die Geschichte einer altbnrgundischcn Hcldenfamilie. Es zerfällt in zwei Hälften (Sig¬
frids Tod und Kriemhildcns Rache) und ist durch einfache Größe, wirkungsvolle Compo-
silion und treffliche Charakterschilderung ausgezeichnet.
Inhalt. I. Zu Wurms am Rhein mahnt König Günther mit seiner
Schwester Kriemhild, den Brüdern Gernat und Geiselher, und den Dienstmannen
Hagen von Tronjc, Dankmart und Volker. Derzeit erwächst zu Santen am
Niederrhein Sigfrid, Sohn König Sigmunds, ein junger, herrlicher Held, der
früh schon Sieger im Trachenkampfe, durch Salben mit des Drachen Blut un¬
verwundbar geworden ist. Er hat den mächtigen Goldschatz (Hort) der Nibelungen 1
erobert, den unsichtbar machenden, die Kraft von zwölf Männern verleihenden
Tarnmantel gewonnen, komnlt nach Worms, wirbt um Kriemhild, erhält sie aber
erst, nachdem er mit Günther, Hagen und Dankwart nach Jsenland hinabgefahren
ist und als unsichtbarer Helfer König Günthers die streitbare Königin Brunhild
im Speerkampf, Steinwurf und Sprung besiegt und für den Freund (Günther)
gewonnen hat. Nochmals bändigt er sie am Hochzeitstage; als aber zwischen
den Frauen sich Zwist erhebt über den Adel der Männer und Kriemhild die
Gegnerin die zwiefache Besiegung mittheilt und beweist, fordert Brunhild Hagen
zur Rache auf. Ahnungslos bezeichnet Kriemhild selbst dem Mörder die einzig
verwundbaren Stellen des Gatten. Auf der Jagd wird Sigfried von Hagen
meuchlings erschossen, dann der lauernden Wittwe der „Hort" entrissen und von
den Brüdern, auf welche nun der Name „Nibelungen" übergeht, in den
Rhein gesenkt.
II. Nach langer Frist wirbt der Hunnenfürst Etzel um Kriemhild und
auf Rache hoffend, folgt sie dem Gesandten Rüdiger von Bechlaren, bittet
um den Besuch der Brüder und diese treten, trotz Hägens Warnung und man¬
cher schlimmer Vorzeichen die Reise an. Bald erkennen sie an Etzels Hofe den
feindlichen Sinn der Königin; Hagen mit Volker in Todesfreundschaft verbunden,
reizt trotzig die Unglückliche noch mehr. Sie läßt die Knechte überfallen, während
die Herren beim Mahle sitzen; Hagen erschlägt auf die Kunde ihr Kind Ortlieb
und es stürmen nun die Schaaren der Hunnen und Bundesgenossen gegen die
Verzweifelten, doch sieglos. Kriemhild läßt den Saal in Brand stecken, sogar
der den Burgunden befreundete Rüdiger fällt im Kampfe, Dietrichs Mannen
werden bis auf den alten Hildebrand getötet, endlich aber die einzig übrigen,
Hagen und Günther, von Dietrich von Bern besiegt und gebunden. Hagen will
Kriemhilden den Ort des Schatzes nicht bezeichnen, so lange einer seiner Herren
lebe. Da läßt sie ihren Bruder enthaupten, aber noch immer versagt Hagen
die Erklärung. Daraus schlägt sie ihm mit Sigfrids Schwert das Haupt ab.
Entrüstet über diese Verletzung des Dietrich gegebene» Wortes erschlägt Hilde¬
brand die Rächerin. „Hier hat die Mär ein Ende: Das ist der Nibelungen Not!"
^Nibelunge (Nebelkinder), die beiden Söhne des Königs Nibelunc, mit Namen Nibelung
und Schilbung. In ihrem Lande am Niederrhein liegt unter Albrichs Hut der Nibelungenhort, den
Sigfrid gewinnt und an Kriemhilde zur Morgengabe giebt. Nach Sigfrids Tode kommt der Hort an
die Burgunder und diese heißen nun Nibelungen.