Full text: Sieben Bücher deutscher Dichtungen

Erstes klassisches Zeitalter. 
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Gudrun die hehre sprach zu den Helden da: 
„Ich ließ sie in der Veste, heute Morgen sah 
Ich in den Burgen liegen wohl vierzig hundert Mannen; 
Ich weiß nicht zu sagen, ob sie seitdem geritten sind von dannen." 
Oft blickte Herwig die Jungfrau forschend an. 
Sie schien so schön dem Degen und auch so wohlgethan, 
Daß es ihn im Herzen tief zum Seufzen brachte: 
Sie glich so sehr der einen, an die er oft inniglich gedachte. 
Da sprach von Ortland wieder der König Ortewein: 
„Ich frag euch Mädchen beide, sollt' euch bekannt nicht sein 
Ein fremdes Ingesinde, das kam zu diesem Land? 
Eine war darunter, die wurde Gudrun genannt." 
„Das hab' ich wohl erfahren/' sprach die schöne Maid: 
„Es kam ein fremd' Gesinde hierher vor langer Zeit; 
Nach starker Heerfahrt brachte man sie zu diesen Reichen, 
Den geraubten Frauen sah man das Antlitz großen Jammer bleichen." 
Sie sprach: „Die ihr da suchet, die hab' ich wohl gesehn, 
In großen Mühsale», das will ich euch gestehn, 
Sie war der Mädchen eine, die da Hartmuth brachte: 
Ja Gudrun war sie selber, daher sie dieser Dinge wohl gedachte. 
Da sprach der König Herwig: „Nun seht, Herr Ortewein, 
Sollt' eure Schwester Gudrun noch am Leben sein 
In irgend einem Lande von allen Erdenreichen, 
So schwär' ich, diese wär' es: niemals sah ich ihr ein Weib so gleichen/ 
Sie sprach: „Wie ihr auch heißet, ihr seid untadelig. 
Einem den ich kannte, gleicht ihr seltsamlich. 
Er war geheißen Herwig und war von Seelanden; 
Wenn der Held noch lebte, er löst' uns aus diesen strengen Banden. 
„Ich bin auch ihrer eine, die mit Hartmuths Heer 
Im Streite gefangen geführt ward über Meer. 
Ihr suchet Gudrunen, das thut ihr ohne Not: 
Die Magd von Hegelingen fand vor großem Leid den Tod." 
Da thränten Ortweinen seine Augen licht; 
Die Kunde ließ auch Herwig unbeweinet nicht. 
Als sie das vernahmen, daß gestorben wäre, 
Die Magd von Hegelingen, das belud ihr Herz mit großer Schwere. 
Als sie die Helden beide vor sich weinen sah, 
Die geraubte Jungfrau sprach zu ihnen da: 
„Ihr gehabt euch also bei dieser Trauermäre, 
Als ob die edle Gudrun euch verwandt, ihr guten Helden, wäre." 
Da sprach König Herwig: „Wohl traur' ich um die Maid, 
Die mir verheißen wurde auf alle Lebenszeit. 
Sie war mir zugeschworen mit Eiden fest und stäten: 
Nun hab ich sie verloren durch des alten Ludwigs grimme Räte." 
„Ihr wollt mich betrügen," sprach die arme Magd; 
„Von Herwigens Tode ward mir so oft gesagt. 
Die höchste Wonn' auf Erden sollt ich in ihm gewinnen: 
Wär' er noch am Leben, er hätte mich wohl geführt von hinnen." 
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