Full text: Sieben Bücher deutscher Dichtungen

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Poetik. 
Die Lehre nun sowohl von dem geistigen Wesen und Begriffe der 
Poesie überhaupt, als insbesondere auch von den Dichtnngsformen und 
Dichtungsarten nennen wir Poetik. 
Die Feststellungen bezüglich der Dichtungsformen fasten wir unter dem 
Namen Metrik zusammen, während bezüglich der Dichtungsarten die Poetik 
sich gliedert in die Lehre von den Erzeugnissen der lyrischen, epischen und 
dramatischen Poesie. 
I. Von den Dichtungformen. 
Während die Prosa oder ungebundene Redeweise vorwiegend die 
Sprache des Verstandes, bezüglich der Wissenschaft ist und ihren nächsten 
Zweck, den der Belehrung durch Einkleidung der Gedanken in richtige Formen 
zu erreichen sucht, ist die P o e s i e dagegen durch Darstellung des S ch ö n e n, W a h r e n 
und Guten in möglichst lebendiger und vollendeter Form bemüht, veredelnd, 
und bildend, erhebend und tröstend aus das menschliche Gemüt einzuwirken 
Diesen hohen, heiligen Zweck zu erreichen, bindet sich die Poesie nicht, wie 
die Prosa dies thut, allein an die Gesetze der Sprache, sondern auch au 
die Regeln der Kunst, zumal an die eines schönen Ton- und Reimsalles, 
und pflegt eben deshalb die gebundene Redeweise genannt zu werden. 
Nur so ist die Poesie als wesentliche Ergänzung, Spitze und Abschluß aller 
übrigen Künste im Stande, deren Wirkungen in sich zu vereinigen, und erübrigt 
demgemäß zunächst von der plastischen Gestaltungskraft, sodann abervon 
dem der Poesie eigenen musikalischen Elemente das Wichtigste beizubringen?') 
Die plastische Gestaltungskraft 
oder Bildlichkeit der Poesie ist das nämliche, was wir unter dem Schmucke 
der Rede durch rhetorische Figuren oder Tropen (—im weitesten Sinne 
des Wortes —) verstehen, in denen sich die Gedanken und Empfindungen des 
Dichters als unmittelbarer Erguß seines lebendig bewegten Gemütes kundgeben. 
Der Prosa wie der Poesie in sehr vielen Fällen zugleich eignend, sind 
sie doch unter sich sehr verschieden, und dienen die Einen lediglich dazu, durch 
Abweichungen von ver gewöhnlichen Darstellungsweise dem Ausdrucke der Neben¬ 
vorstellungen eine größere Anschaulichkeit zu verleihen, während sie den 
Hauptbegriff unverändert lassen. Zu diesen, die großenteils grammati¬ 
scher Art, zählen: 
A. 1. Das Epitheton ornans oder „schmückende Beiwort", welches zur 
Versinnlichung, und damit zur Verdeutlichung und lebendigen Veranschaulichung eines 
Gegenstandes dient; z. B.: Die „silbernen" Wellen, die „wallenden" Saaten rc. 
2. Die Emphase (der „Nachdruck"), darin bestehend, daß ein einfaches 
Wort durch nachdrückliche Betonung einen über die gewöhnliche Bedeutung hinaus¬ 
gehenden höheren Sinn erhält; z. B.: „Er war ein Mann, nehmt alles nur 
in allem." — „Ja, sie sind ewig, denn sie sind!" 
3. Die Wiederholung, die gehäufte Wiederkehr derselben Wörter und 
Ausdrücke; z. B.: „Auferstehn, ja auferstehn wirst du, mein Staub w." — 
4. Die Ellipse, d. i. die Auslassung eines, zur Vollständigkeit des Satzes 
notwendigen, jedoch durch den Zusammenhang leicht zu ergänzenden Redeteils; 
z. B.: „Ich seh' in die Zukunft — die Stimme des Ruhms — deine Entwürfe 
— dein Vater — mein Nichts — ein Dolch über dir und mir! Man trennt 
uns!" (Schiller.) 
*) Siehe hierüber Näheres in Karl Oltrogge: „Wolfsis Poet. Hausschatz", 
Leipzig 1867 S. 2. ff.
	        
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