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Poetik.
Die Lehre nun sowohl von dem geistigen Wesen und Begriffe der
Poesie überhaupt, als insbesondere auch von den Dichtnngsformen und
Dichtungsarten nennen wir Poetik.
Die Feststellungen bezüglich der Dichtungsformen fasten wir unter dem
Namen Metrik zusammen, während bezüglich der Dichtungsarten die Poetik
sich gliedert in die Lehre von den Erzeugnissen der lyrischen, epischen und
dramatischen Poesie.
I. Von den Dichtungformen.
Während die Prosa oder ungebundene Redeweise vorwiegend die
Sprache des Verstandes, bezüglich der Wissenschaft ist und ihren nächsten
Zweck, den der Belehrung durch Einkleidung der Gedanken in richtige Formen
zu erreichen sucht, ist die P o e s i e dagegen durch Darstellung des S ch ö n e n, W a h r e n
und Guten in möglichst lebendiger und vollendeter Form bemüht, veredelnd,
und bildend, erhebend und tröstend aus das menschliche Gemüt einzuwirken
Diesen hohen, heiligen Zweck zu erreichen, bindet sich die Poesie nicht, wie
die Prosa dies thut, allein an die Gesetze der Sprache, sondern auch au
die Regeln der Kunst, zumal an die eines schönen Ton- und Reimsalles,
und pflegt eben deshalb die gebundene Redeweise genannt zu werden.
Nur so ist die Poesie als wesentliche Ergänzung, Spitze und Abschluß aller
übrigen Künste im Stande, deren Wirkungen in sich zu vereinigen, und erübrigt
demgemäß zunächst von der plastischen Gestaltungskraft, sodann abervon
dem der Poesie eigenen musikalischen Elemente das Wichtigste beizubringen?')
Die plastische Gestaltungskraft
oder Bildlichkeit der Poesie ist das nämliche, was wir unter dem Schmucke
der Rede durch rhetorische Figuren oder Tropen (—im weitesten Sinne
des Wortes —) verstehen, in denen sich die Gedanken und Empfindungen des
Dichters als unmittelbarer Erguß seines lebendig bewegten Gemütes kundgeben.
Der Prosa wie der Poesie in sehr vielen Fällen zugleich eignend, sind
sie doch unter sich sehr verschieden, und dienen die Einen lediglich dazu, durch
Abweichungen von ver gewöhnlichen Darstellungsweise dem Ausdrucke der Neben¬
vorstellungen eine größere Anschaulichkeit zu verleihen, während sie den
Hauptbegriff unverändert lassen. Zu diesen, die großenteils grammati¬
scher Art, zählen:
A. 1. Das Epitheton ornans oder „schmückende Beiwort", welches zur
Versinnlichung, und damit zur Verdeutlichung und lebendigen Veranschaulichung eines
Gegenstandes dient; z. B.: Die „silbernen" Wellen, die „wallenden" Saaten rc.
2. Die Emphase (der „Nachdruck"), darin bestehend, daß ein einfaches
Wort durch nachdrückliche Betonung einen über die gewöhnliche Bedeutung hinaus¬
gehenden höheren Sinn erhält; z. B.: „Er war ein Mann, nehmt alles nur
in allem." — „Ja, sie sind ewig, denn sie sind!"
3. Die Wiederholung, die gehäufte Wiederkehr derselben Wörter und
Ausdrücke; z. B.: „Auferstehn, ja auferstehn wirst du, mein Staub w." —
4. Die Ellipse, d. i. die Auslassung eines, zur Vollständigkeit des Satzes
notwendigen, jedoch durch den Zusammenhang leicht zu ergänzenden Redeteils;
z. B.: „Ich seh' in die Zukunft — die Stimme des Ruhms — deine Entwürfe
— dein Vater — mein Nichts — ein Dolch über dir und mir! Man trennt
uns!" (Schiller.)
*) Siehe hierüber Näheres in Karl Oltrogge: „Wolfsis Poet. Hausschatz",
Leipzig 1867 S. 2. ff.