I. Die germanische Arbeit.
(Bis zur Völkerwanderung.)
Das indogermanische Urvolk, dessen Wohnsitze vermutlich im westlichen Mittel¬
asien zu suchen sind, spaltete sich so, daß die Inder in Asien nach Südosten, die
Jranier und Armenier nach Süden wanderten, während die Griechen und Italiker
nach dem Süden Europas an das Mittelmeer, die Kelten nach dein Westen zogen.
Hinter diesen rückten die Germanen nach Mittel- und Nordeuropa ein; die nach
ihnen kommenden letto-slavischen Völker blieben jenseits der Weichsel in den Nie¬
derungen Rußlands. — Die Sprache des germanischen Urvolkes, die man durch
Vergleichung der germanischen Dialekte erschließt, unterschied sich von der des indo¬
germanischen Urvolkes zunächst darin, daß sie entsprechend den eigenartigen Verhält¬
nissen, in denen die Germanen nach ihrer Loslösung vom Urvolke lebten, eine Anzahl
neuer Wörter und Wortformen entwickelte; aber auch der gemeinsame Wort- und
Formenschatz weicht von dem uriudogermanischen ab, und zwar hauptsächlich darin,
daß 1) die Verschlußlaute und ihre Aspiraten, ferner t' und ü eine regelmäßige Ver¬
schiebung (die erste, urgermanischeLautverschiebung) erfahren haben und
2) das Urgermanische die erste Wortsilbe, die meist die Stammsilbe ist, betonte, wäh¬
rend das Urindogermanische bald die Stammsilbe, bald die Endungen betont hatte.
Die Urgermanen teilten sich nach Wohnsitzen, Sprache und Sitte in drei Stämme:
1) die Skandinavien, Jütland und Island bewohnenden Nordgermanen, 2) die Ost¬
germanen zwischen Elbe und Weichsel, 3) die Westgermanen zwischen Rhein und
Elbe. Unter den Ostgermanen zeichneten sich in den ersten Jahrhunderten n. Chr.
die Goten durch hohe Entwickeluug der Dichtung und der Sprache, von der uns in
der Bibelübersetzung des Wulfila ein treffliches Denkmal erhalten ist, aus; leider
verschlugen die Stürme der Völkerwanderung jene hochbegabten Stämme nach dem
Süden Europas, wo sie im Kampf mit den ronurnischen Völkern zu Grunde
gingen.
So entwickelte sich die Litteratur der Deutschen allein bei den Westgermanen.
Sind uns auch keine Denkmäler aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. bis zur Völker¬
wanderung hin erhalten, so können wir uns doch aus den Nachrichten griechischer
und römischer Schriftsteller ein klares Bild von ihrem Kulturzustand, insbesondere
von ihrer Litteratur entwerfen. — Danach gab es zunächst Lieber, die zu Beginn
der Schlacht und bei den Siegesfesten, bei Opfern und Frühlingsfesten, bei Hochzeiten
und Begräbnissen von Chören unter Tanz- und Marschbewegungen vorgetragen
wurden; sie priesen Götter, mythische Persönlichkeiten und Helden der Geschichte.
Aber auch Einzellieder wurden von geübten Sängern bei festlichen Gelegenheiten
Muff u. Dammann, Leseb. f. Mädchenschulen VI, B. 1