In Moskau.
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Glockenturm, die vielen wunderlichen Kirchen, — alles dieses bildet ein Ganzes,
welches nicht zweimal in der Welt vorkommt.
2. Wer wie ich zum erstenmal von des Kremls Wällen aus Moskau
an einem warmen, sonnigen Tage betrachtet, der denkt sicher nicht daran,
daß er sich hier unter demselben Breitengrade befindet, unter welchem die
Renntiere in Sibirien grasen und die Hunde in Kamtschatka die Schlitten
über die Eisfläche ziehen. Moskau macht ihm vielmehr unbedingt den Ein—
druck einer Stadt des Südens, aber auch den, daß er vor etwas Fremdem,
bisher Ungesehenem steht. Keine andre Stadt von gleicher Größe besitzt so
viele Kirchen wie Moskau. Jede von ihnen hat wenigstens fünf, einige
haben sogar sechzehn Kuppeln, welche mit glänzenden Farben übermalt, mit
gefürbten, glasigen Ziegeln gedeckt und reich vergoldet oder versilbert sind.
Sie funkeln deshalb auch in der Luft wie die Sonne, wenn sie sich halb
über den Horizont erhoben hat. Die Häuser liegen fast immer mitten in
Gärten und zeichnen sich mit ihren weißen Mauern und hellgrünen oder
rot gemalten, flachen Eisenblechdächern in geschmackvollen Umrissen von dem
dunklen Hintergrund der Bäume ab. Nur der älteste Teil der Stadt in
der Nähe des Kremls gleicht unsern Städten; nur dort stößt ein Haus an
das andre. Das Ganze ist sorgfältig mit geweißten Mauern umgeben,
welche mit prachtvollen Türmen besetzt sind. Überall sonst scheint Moskau
eine Sammlung von Landhäusern zu sein, zwischen welchen die Moskwa in
großen Krümmungen läuft.
63. Im Kreml thronte seiner Zeit die oberste weltliche und geistliche
Macht des Reiches. In des Kremls Nähe ließ sich der Handelsstand nieder;
er bedurfte der Mauern, um seine Schätze aus China, der Bucharei, Byzanz
und Nowgorod zu beschützen. Der andre, viel ausgedehntere Teil von
Moskau wurde vom Adel erbaut, und lange nachdem Peter der Große die
neue Hauptstadt auf Feindes Boden errichtet hatte, verschmähten die Großen
diesen Aufenthaltsort, indem sie festhielten an der Väter Sitte. Noch heutiges—
tags ist Moskau mit seinen ehrwürdigen Heiligtümern und geschichtlichen
Erinnerungen ein Gegenstand der Ehrfurcht und Vorliebe für jeden Russen,
und so oft er von weitem im Vorbeireisen das goldne Kreuz des großen
Glockenturmes zu sehen bekommt, wirft er sich andächtig und von Vaterlands—
liebe ergriffen auf seine Knie. Petersburg ist sein Stolz; aber Moskau steht
seinem Herzen nahe.
4. Man hat gesagt, wenn die Bevölkerung Rußlands zunähme, würde
das unermeßliche Reich auseinanderfallen. Jedoch kann keiner seiner Teile
ohne die andern bestehen: der waldreiche Norden nicht ohne den kornreichen
Süden, das gewerbthätige Mittelland nicht ohne die beiden andern, das
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