Full text: (Sechstes und siebentes Schuljahr) (Teil 3 für Kl. 4 u. 3)

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81. Der Besitzer des Bogens. 
Gotthold Ephraim Lessing. 
Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem 
er sehr weit und sehr sicher schoß, und den er ungemein wert hielt. 
Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: „Ein wenig 
plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade!" — 
Doch dem ist abzuhelfen, fiel ihm eim „Ich will hingehen und ihn 
von dem besten Künstler schnitzen lassen." Er ging hin, und der 
Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen, und was hätte sich 
besser für einen Vogen geschickt als eine Jagd? 
Der Mann war voller Freuden. „Du verdienst diese Zieraten, 
mein lieber Bogen!" — Indem will er ihn versuchen; er spannt, und 
— der Bogen zerbricht. 
82. Zeus und das Pferd. 
Gotthold Ephraim Lessing. 
„Vater der Tiere und Menschen," so sprach das Pferd und nahte 
sich dem Throne des Zeus; „man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe, 
womit du die Welt gezieret, und meine Eigenliebe heißt mich, es 
glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch Verschiedenes an mir zu 
bessern sein?" 
„Und was meinst du denn, daß an dir zu bessern sei? Rede, ich 
nehme Lehre an," sprach der gute Gott und lächelte. 
„Vielleicht", sprach das Pserd weiter, „würde ich flüchtiger sein, 
wenn meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanen¬ 
hals würde mich nicht verstellen; eine breitere Brust würde meine Stärke 
vermehren, und da du mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, 
den Menschen zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen 
sein, den mir der wohltätige Reiter auflegt." 
„Gut," versetzte Zeus; „gedulde dich einen Augenblick!" Zeus, 
mit ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben 
in den Staub, da verband sich organisierter Stoff, und plötzlich stand 
vor dem Throne — das häßliche Kamel. 
Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu. 
„Hier sind höhere und schmächtigere Beine," sprach Zeus; „hier 
ist ein langer Schwanenhals; hier ist eine breite Brust; hier ist der 
anerschaffene Sattel! Willst du, Pferd, daß ich dich so umbilden soll?"
	        
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