2 Neudeutsche Literatur.
endlich auch vor meine Thür. Sein ehrliches Gesicht und seine traurige Ge—
schichte rührten mich, und wie oft ist sie mir nach der Zeit eingefallen! Ich
gab ihm ein reichliches Almosen, und sorgte in der Folge für sein Unterkommen.
3. Jean Paul Friedrich Richter.
G 132 133 hrb. 956)
1. Isola Bella.
(Aus „Titan.)
Der Mantel der Nacht wurde dünner und kühler — die Morgenluft
wehte lebendig an die Brust — die Lerchen mengten sich unter die Nachtigallen
und unter die singenden Ruderleute. — Endlich hing die zerlegte Morgen—
röthe als eine Fruchtschnur von Hesperiden-Aepfeln um die fernen Kastanien—
gipfel; und jetzt stiegen sie auf Isola Bella aus —
Welch eine Welt! Die Alpen standen wie verbrüderte Riesen der Vor—
welt, fern in der Vergangenheit verbunden beisammen, und hielten hoch der
Sonne die glänzenden Schilde der Eisberge entgegen — die Riesen trugen
blaue Guͤrtel aus Wäldern — und zu ihren Füßen lagen Hügel und Wein—
berge — und zwischen den Gewölben aus Reben spielten die Morgenwinde
mit Caskaden wie mit wassertafftnen Bändern — und an den Bändern hing
der überfüllte Wasserspiegel des Sees von den Bergen nieder, und sie flatter—
ten in den Spiegel, und ein Laubwerk aus Kastanienwäldern faßte ihn ein. —
Abano drehte sich langsam im Kreise um und blickte in die Höhe, in die
Tiefe, in die Sonne, in die Blüthen; und auf allen Höhen brannten Lärm—
feuer der gewaltigen Natur und in allen Tiefen ihr Widerschein. — O als
er dann neben der unendlichen Mutter die kleinen wimmelnden Kinder sah,
die unter der Welle und unter der Wolke flogen — und als der Morgen—
wind ferne Schiffe zwischen die Alpen hineinjagte — und als Isola Madre
gegenüber sieben Gärten aufthürmte und ihn von seinem Gipfel zu ihrem im
wagrechten wiegenden Fluge hinüberlockte und als sich Fasanen von der Madre—
Insel in die Wellen warfen; so stand er wie ein Sturmvogel, mit aufgeblät—
tertem Gefieder auf dem blühenden Horst, seine Arme hob der Morgenwind
wie Flügel auf, und er sehnte sich, über die Terrasse sich den Fasanen nach—
zustürzen und im Strome der Natur das Herz zu kühlen — — Das stolze
Weltall hatte seine große Brust schmerzlich ausgedehnt und dann selig über—
füllt. — — Hohe Natur, wenn wir dich sehen und lieben, so lieben wir
unsere Menschen wärmer, und wenn wir sie betrauern und vergessen müssen,
so bleibst du bei uns und ruhest vor dem nassen Auge wie ein grünendes
abendrothes Gebirge. Ach vor der Seele, vor welcher der Morgenthau der
Jdeale sich zum grauen kalten Landregen entfärbt hat — und vor dem Auge,
das verarmt und verlassen ist und das kein Mensch mehr erfreuen will — und
vor dem stolzen Göttersohne, den sein Unglaube und seine einsame menschen—
leere Brust an einen ewigen unverrückten Schmerz anschmieden, vor allen die—
sen bleibst du, erquickende Natur, mit deinen Blumen und Gebirgen und
Katarakten treu und tröstend stehn.
2. Das Testament.
(Aus den „Flegeljahren⸗)
Herrn Van der Kabels Testament wurde aufgemacht und vom regieren—
den Bürgermeister vorgelesen wie folgt: „Meinen sieben noch lebenden weit—
läufigen Anverwandten von sieben verstorbenen weitläusigen Anverwandten (folgen
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