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Fortsetzungen des Gebirgszuges ragen in die Beckenmündung hin¬
ein und bilden verborgene, trauliche Buchten, seltener grüne Inseln.
Einzelne Hirten- oder Fischerwohnungen, manchmal kleine Dörf¬
chen, siedeln sich am Gestade an und die fleißigen Menschen suchen
ihr Brot bald in der Tiefe des Wassers bald an den grünen Ga¬
lerien der nahen Gebirge.
Von den unteren Gebirgsseen unterscheiden sich vielfach die
höhergelegenen, tiefgrünen, blauen oder weißlich-grauen Alpen¬
feen, die eine schöpferische Hand so reichlich über das Gefilde von
Bergen und Tälern hingestreut hat. Es find nur ganz kleine, ge¬
wöhnlich eirunde Wasserschalen, meist mit zerklüftetemFelsengrunde.
Innerhalb des Baumreviers umkränzen ihre Ufer noch dunkle Rot¬
tannen und Zirbelkiefergruppen. Die Einfassung des Seespiegels
wird bald von schroffen Felsenzügen, aus denen unmittelbar die
trotzigen Bergkegel aufsteigen, gebildet, bald verläust sie sich in
feuchte, sauere Wiesen. In klaren Farben malen sich die Alpen
in dem Kristallspiegel mit allen ihren grünen Gesimsen, dunklen
Schluchten, blinkenden Schneespiegeln und unendlichen Felsenter¬
rassen ab. Es ist, als ob der Geist dieser Alpenwelt kühn aus dem
Wasserauge blitze. Die oberen Wassersammler, die sich meistens
von großen Gletscherfeldern nähren und an ihrem Rande keinen
Baum, höchstens etliche Weiden, Heckenkirschen-, Alpenrosen- und
Erlenbüsche hervorbringen oder auch ganz tot zwischen grauen
Geschiebrevieren und Felsenwänden lagern, haben ein düsteres und
tief-ernstes Ansehen. Gewöhnlich ohne alle Wellenbewegung mit
dunkelgrünen Farbentönen, stimmen sie zum öden Geiste der Felsen¬
landschaft. Kein Nachen, kein Flüßchen hat sie je berührt, keine
Seerose ihre breiten Blätter auf dem Spiegel gewiegt, kein Fisch
zieht durch die grünen Tiefen, kein Wasservogel, oft nicht einmal
ein Frosch sitzt an den steinigen Ufern. Den größten Teil des
Jahres deckt sie Schnee und Eis und manches flache, ausgewölbte
Becken friert bis auf den Grund zu. Mühsam und langsam taut
der Frühling oder Sommer sie auf und kleine Felder oder Blöcke
von Eis schwimmen noch auf ihnen, wenn schon die Alpenrosen¬
büsche auf ihren Felsen freudig die Glockensträuße im Winde wie¬
gen. Hin und wieder wirft noch eine späte Lawine haushohe,
sprudelnde Schneemassen in ihre Becken oder ein später Frost über¬
zieht die kaum geschmolzene Flut mit einer klaren, aus Kristall¬
nadeln gewobenen Decke.
Wahrscheinlich haben die meisten muldenförmigen Einsatt¬
lungen der Berg- und vielleicht auch der Alpenregion früher als
Becken solcher stillen, griinen Seen gedient. Diese sind mit der
Zeit abgeflossen. Das Gebirge hat seine Schicksale wie das Volk.
Mit leisem Zahne sägen die abfließenden Wasser jene Querriegel,
welche das Seebecken von der nächsten unteren Talplatte abtrennen,