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Ueberschau und Vorblick. 51 
gemeinsamen Boden hat — das Herz und Gemüth des Menschen. Anfangs suchte man die 
Theologie mit den philosophischen Forschungen und mit den Resultaten einer fortschreiten¬ 
den Kritik und Auslegungskunft (Exegese) in Uebereinstimmung zu bringen; dies führte 
zu jenem gemäßigtfreien Standpunkte, auf dem Sem ler in Halle, Michaelis in Gdt- 
tingen , E r n e ft i in Leipzig, die Kirchenhistoriker Mosheim und Planck („Geschichte 
der Entstehung des Protest. Lehrbegriffs") u. A. standen. Diese achteten die Offenbarung, 
suchten sie aber aus Vernunft zu gründen; sie hielten die Bibel heilig, allein sie benutzten 
zu ihrer Erklärung die Hülfsmittel der Wissenschaft, als Sprachforschung, Kritik, Alter¬ 
thumskunde, und stellten sie somit aus eine Linie mit andern Werken der Vorzeit. Einen 
Schritt weiter gingen die Berliner Theologen und Philosophen, die im Kampf wider 
die Freigeisterei des Hofes selbst freidenkend geworden waren, ohne sich jedoch vom prote¬ 
stantischen Kirchenglauben zu entfernen; sie schieden die wesentlichen Lehren des Christen¬ 
thums von dem, was Theologie und Schulgelehrsamkeit hinzugesügt, und suchten den Of- 
senbarungsglauben mit der Vernunft- und Naturreligion in Harmonie zu setzen. Sie lern¬ 
ten den englischen Deisten (Lehrb. §► 670.) die Kunst ab, durch faßliche Behandlung und 
gefällige Sprache religiöse Erörterungen in weitere Kreise zu bringen, die christliche Lehre 
dem gesunden Menschenverstand einleuchtend und die christliche Moral zur Richtschnur des 
Wandels zu machen; Haupt- und Mittelpunkt dieser Berliner Rationalisten war Nicolai 
und die von ihm gegründete allgemeine deutsche Bibliothek (seit 1765); aber sie 
führten alle Religion auf bloße Sittenlehre zurück ohne Anregung der Phantasie und Em¬ 
pfindung. Zu ihnen gehörte Spalding, „der die Religion nicht mit unnöthiger Sal¬ 
bung behandelte" und in seiner Schrift „über die Nutzbarkeit des Predigtamtes" dem geist¬ 
lichen Stand keine apostolische Heiligkeit beilegte, sondern seine Hauptbedeutung in der 
Gemeinnützigkeit und in der Anleitung zur Sittlichkeit erblickte. — Standen diese Männer 
noch alle auf dem Boden der Kirche und der christlichen Gläubigkeit, so gingen dagegen 
Andere über die Schranken hinaus und legten in ihren Schriften Ansichten nieder, die 
theils mit den sreigcistigen und materialistischen Grundsätzen der französischen Philosophen 
übereinstimmten (wie Mauvillon, Unzer, Dippel, Edelmann), theils, wie der gemüthlose, 
in Sinnesart und Wandel am Niedrigen und Gemeinen klebende C. Fr. Bahrdt, das 
Christenthum und seinen erhabenen Stifter der höhern Würde und Heiligkeit zu entkleiden 
und ins Alltägliche und Gemeine hcrabzuziehen suchten. Dippel (ff 1734) verspottete 
unter dem Namen des christlichen Demokritus das protestantische Papstthum und die Lehre 
einer stellvertretenden Genugthuung und Edelmann (ff 1767) leugnete jede übernatür¬ 
liche Offenbarung und ließ sich in roher Weise über die heil. Schrift aus. 
Bahrdt trug seinen Leichtsinn im Leben auch aufseine Lehren und Schriften über und griff im kecken 
Volkston die Bibel und vornehmlich die geschichtliche Grundlage des Christenthnms an. Er stellte in sei¬ 
nen zahlreichen, aller Phantasie ermangelnden Werken das Christenthnm als bloße Moralreligion 
hin, betrachtete Jesus als einen Menschen, der, gleich ihm selbst, Wohlthätcr und Aufklärer der 
Gesellschaft gewesen, und zerstörte in seiner modernisirten Ueb ersetzun g des Neuen Testaments 
jeden Hauch von Poesie, die den biblischen Schriften zu Grunde liegt. In den Resultaten über¬ 
einstimmend, wenn auch weniger gottlos und gemein, war Eberhard in Halle, der Verfasser 
der „Apologie des Sokrates". 
d) Die Orth o d oxen und Nic olai. Gegen diese Freidenker traten Männer von 
entgegengesetzter Richtung, aber unter sich von verschiedener Färbung und Bestrebung in 
die Schranken. Die Orthodoxen, die auf ihre geistliche Würde wie auf den Buchstaben 
der Bibel und die Gültigkeit der symbolischen Dogmen hielten, bekämpften jede sreiden- 
kende Aeußerung, die den bestehenden Kirchenglauben zu gefährden schien. An ihrer Spitze 
stand der eifrige Zionswächter Melchior Goeze, Hauptpastor in Hamburg, der in 
Verbindung mit einer Schaar obscurer „Mitstreiter in Gott" wider Alle zu Felde zog, die 
an dem lutherischen Dogma rüttelten oder die Worte der heil. Schrift anders deuteten, 
als die Schultheologie festgesetzt. Feind aller Poesie und Philosophie, unternahm er mit 
4' 
C. Fr. 
Bahrdt 
4 1792.
	        
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