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Der Knob' erschrak; reumüthig kniet' er nieder 
Und beichtete dem Heiligen die Sünde. 
'Sohn,' sprach der Greis, chast du denn nicht gelesen, 
Wenn Menschen schweigen, werden Steine schrein? 
Nicht spotte künftig, Sohn, mit Gottes Wort! 
Lebendig ist es, kräftig, schneidet scharf. 
Wie kein zweischneidig Schwert. Und sollte gleich 
Das Menschenherz sich ihm zum Trotz versteinen, 
So wird im Stein ein Menschenherz sich regen!' 
76. 
Domine, tu scis, ut te diligam. 
Nach einer mittelhochd. Legende. 
Fr. H. v. d. Hagen: Gesamintabenteuer. Stuttg. u. Tüb. 1850. III, 589- 
Ein Edelmann, der wenig verstand, aber ein edles Herz hatte, 
entsagte der Welt und begab sich in das Kloster Citeaux, in den 
grauen Orden der Cistercienser. Die Mönche fanden es unfüglich, 
daß der Edelherr bei ihnen nur als Laienbruder zur Bedienung 
wäre, und wollten ihn völlig in ihre Gemeinschaft aufnehmen: ein 
erfahrener Meister sollte ihn Schrift und Brauch lehren. Der 
Ritter ließ es sich gern gefallen; weil er aber im ritterlichen Leben 
alt geworden, war die Andacht geringe, und von allem, was der 
Meister ^ihm vorlas, behielt er mit großer Mühe endlich nur den 
Spruch, welchen St. Petrus zu Christo sagte am See Genezareth: 
‘Domine, tu scis, ut te diligam!’ Nicht mehr wollte in seinen 
harten Sinn hinein; dies aber war ihm ins Herz gegraben, und 
wo er gieng und stand, und bei allem, was er that, sprach er: 
‘Domine, tu scis, ut te diligam!’ 
Doch Gottes Güte wollte den tugendhaften Mann seine Hart- 
lehrigkeit nicht entgelten lassen! Als er starb und begraben war, 
wuchs alsbald eine schöne Lilie aus seinem Grabe, mit vielen 
Blumen geziert, und auf jeglichem Blatte stand mit goldenen Buch¬ 
staben geschrieben: ‘Domine, tu scis, ut te diligam!’ Die Brüder 
gruben diesem Wunder nach bis auf den Grund, und da fanden 
sie, daß die Wurzel der Blumen im Herzen entsprungen und ihr 
Schaft durch den Gaumen des Mundes gewachsen war. Alle be¬ 
wunderten die seltsame Erscheinung, dankten dem Herrn aller 
Herren dafür und erkannten wohl die große Innigkeit, mit welcher 
der ritterliche Mönch ans Herzens Grunde allezeit gesprochen hatte: 
‘Domine, tu scis, ut te diligam!’ — Des sei Gott gelobet und ge- 
liebet in Ewigkeit!
	        
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