Full text: Oberstufe (Teil 2, [Schülerbd.])

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Dem Meister kam das wunderlich vor, und er hatte schon ein 
Wort von Narrenpossen und dergleichen auf der Zunge. Wie er 
aber dem ehrlichen Gesellen ins Gesicht sah, besann er sich und 
sagte: „Nun, meinethalben geh in die Kirche, soviel du willst. Eins 
5 aber bedinge ich mir aus: Wenn viel zu tun ist, mußt du auch am 
Sonntag auf dem Platze sein.“ — Wer war froher als unser Gesell! 
Am nächsten Sonntag zieht er seinen blauen Rock an, nimmt das 
Gesangbuch unter den Arm und geht in die Kirche. Solch einen 
schönen Tag hat er lange nicht gehabt; ihn hat die Predigt und der 
10 Gesang ganz aufgeweckt, und unser Grobschmied war so munter wie 
ein Vogel. Nun vergeht die Woche, und wie der Sonntag kommt, 
sagt der Meister: „Gesell, es ist viel zu tun, heute mußt du in der 
Werkstatt sein.“ — „Gut,“ sagt der Gesell, „wenn's nicht anders 
sein kann.“ — Den nächsten Sonntag sagt der Meister wiederum: 
15 „Es ist viel zu tun,“ und so auch den dritten. 
3. Als aber nach dem dritten Sonntag der Gesell den Wochenlohn 
bekam, fünf Taler und fünfundzwanzig Silbergroschen, wie es ihm 
zukam, da spricht er: „Das ist zu viel!“ und schiebt die fünfund¬ 
zwanzig Silbergroschen zurück. „Warum?“ sagt der Meister, „es ist 
20 für die sieben Tage.“ — Der Gesell aber spricht: „Nein, ich hab’s 
mir bedacht, und für den Sonntag nehme ich kein Geld mehr; denn 
der Sonntag ist nicht zum Geldverdienen, und wenn ich am Sonntag 
arbeite, so geschieht's Euch zuliebe, und Geld will ich nicht.“ Da 
sah der Meister den Gesellen groß an, und seit dem Tage war die 
25 Schmiede jeden Sonntag verschlossen und kein Hammer noch Blase¬ 
balg mehr zu hören. 
Merke: Man soll unserm Herrgott nicht sein drittes Gebot stehlen, 
und wer in die Kirche will, der findet den Weg schon. 
Flieg. Blätter au» dem Baulien Hause. 
30 11. Altes Gold. 
„Wo ein Kirchturm ist, da reckt der liebe Gott den Finger in 
die Höhe; denn es ist eine Kirche und ein Kirchhof dabei." Also 
läßt sich ein uraltes deutsches Sprichwort vernehmen, und das 
ist ein goldenes, echtes und zeugt für den frommen Sinn unsrer 
35 Voreltern. Du lieber Gott! Für viele in unsern Tagen reckt der 
Herr den Finger umsonst in die Höhe. Sie sehen ihn und denken 
dabei höchstens an das Zifferblatt der Uhr, ob’s bald Mittag oder 
Feierabend sein möchte. An ein Aufwärtsrichten des Herzens im 
Gebete denkt selten einer, noch seltener daran, daß am Sonntag 
40 der Herr mit dem aufgereckten Zeigefinger mahnt: „Lasset uns nicht 
verlassen unsre Versammlungen, wie etliche pflegen!“ nicht, daß ein
	        
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