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Wie verhält sich der Deutsche gegenüber der Sprache als einem Werdenden?
Unsere Schulen haben seit einer Reihe von Jahren angefangen, namentlich
die höheren Schulen, dem Schüler klarzumachen, daß er es hier nicht mit
einem Festen, Unabänderlichen zu tun hat, sondern daß die Form des
5 Wortes sich langsam ändert. Man weiß von Etymologie, man weiß davon,
daß Lautgesetze existieren; sehr wenig aber noch von der innern Geschichte
des Wortes, davon, daß nicht nur seine äußere Form sich wandelt, sondern
auch in Umwandlung, im Fluß begriffen ist, sein gedanklicher und gefühls¬
mäßiger Inhalt, der Inhalt einer Schale, der immer neues Wasser zuströmt
10 und von der, wie vom römischen Brunnen, die vorige Füllung immer ab¬
strömt. Es ist schließlich nach Jahrhunderten oft kaum mehr eine Spur von
dem alten Inhalt vorhanden, das Gefäß hat seinen Inhalt gewechselt oder
hat ihn doch so gewandelt, daß wir in seiner neuen Bedeutung die erste
Wortbedeutung kaum wiedererkennen. Es ist das eine Hauptschwierigkeit
15 beim Verständnis alter und älterer Dichter. Wir, Herr und Frau Michel,
haben immer die Neigung, nur das Wort iu seiner heutigen Bedeutung auf¬
zufassen und nicht in der, die vor 300 oder 400 Jahren oder sagen wir
auch nur vor 100 Jahren darin lag. Goethes deutsche Sprache ist iu vielem
die Sprache seiner Zeit. Viel hat er selber schöpferisch an ihr gestaltet,
20 viel haben die romantische und die nachherige Zeit dazu getan; es ist uns
kaum möglich, sein Wort immer so aufzufassen, wie es damals aufgefaßt
wurde. Denken Sie an das Wort „bedeutend" in Goethes Munde. Das
hat allmählich einen andern, viel flachern Sinn bekommen, wir gebrauchen
es etwa wie hervorragend. Wenn Goethe sagt „bedeutend", so fühlt man
25 wie er das Deutende, das, was besonders hervorgehoben zu werden verdient,
bezeichnet.
Eine Meinung von Herrn unb Frau Michel ist auch, es gäbe eine
absolut richtige Sprache, es gäbe sichere Regeln überall, und wer diese
Regeln genau kenne, der habe die richtige Sprache, und wer sie nicht
30 beachte, der spreche falsch. Daher stammt die Neigung, die sehr verbreitet
ist, auch unter den gebildeten Deutschen, am Dichter zu mäkeln, auch an
der grammatischen und stilistischen Richtigkeit des Ausdrucks, Fehler der
Sprache zu finden, wo vielleicht Eigentümlichkeiten, Provinzialismen sind,
altes Erbgut, das im Dichter vielleicht wieder emportaucht; kurz, zu ver-
35 kennen, daß diese Richtigkeit der Sprache ihre sehr frühe Grenze hat, und
daß über der Richtigkeit die innere Wahrheit der Sprache steht. Viele
unserer Sprachregeln, die wir in der Schule kennen lernen und lehren,
sind aus der lateinischen Grammatik gekommen, und sehr viel von dem,
was idiomatisches Deutsch ist, namentlich in Satzbildung und im Stil-
40 gefühl, das erscheint gar nicht in der sogenannten Schulgrammatik.
Das Verhältnis des Durchschnittsdeutschen zur Mundart ist auch ein
eigentümliches. Es ist besser geworden. Wir haben allmählich einsehen