59. Die zwei Schwestern.
.). Besse Id t. Dom „Deutschen Lesebuch“ 1. Band, Bremen, 1873, entnommen.
Vater. Es waren einmal zwei Schwestern; die eine besass
ein Haus, die andere aber hatte kein«. Eines Tages kam die arme
Schwester, die ohne Haus war, zu der reichen und sagte: „Liebe
Schwester, du siehst, wie es regnet, und der Wind scharf bläst,
lass mich ein wenig in deinem Hause trocken werden und warten,
bis sich der Wind gelegt hat; ich will dir ein andermal wieder
eine Gefälligkeit erzeigen. Thu es, liebe Schwester!“
Lida. Ach, das arme Mädchen! Wie muss das in Wind
und Wetter erfroren sein! Ich hätte es gleich aufgenommen.
Vater. Das that aber die reiche Schwester nicht, sondern
sagte: „Wie kannst du nur so einfältig sein und in mein Haus
wollen, worin ich kaum selbst Platz habe? Suche dir einen
Winkel oder ein Loch, wo du dich vor dem Regen und dem Wind
schützen kannst.“
Alle Kinder. 0 pfui, das hässliche Mädchen! Wie ab¬
scheulich ! Von dem will ich nichts mehr wissen.
Vater. Höret nur noch ein Weilchen zu; vielleicht werdet
•ihr dem Mädchen wieder gut.
- Lida. Nein, Vater, gewiss nicht. So ein böses Mädchen,
das seine Schwester nicht einmal ins Haus aufnimmt, wie grau¬
sam muss das gegen andere arme Leute sein! Das gibt gewiss
keinem ein Stückchen Brot.
Vater. Nein, das thut es auch nicht; es gibt keinem Men¬
schen etwas, nicht einen Heller.
Emil. Und du willst, wir sollen diesem Mädchen gut sein,
Vater? Es ist ja schlimmer als ein Tiger.
Vater. Nun, so arg ist's nicht; zwar steigt es den Land¬
leuten in die Gärten und geht auf die Felder und maust da,
was ihm gefällt.
Laura. Es maust auch? Das hat ja alle Laster! Dem
kann man unmöglich gut sein!
Anton. Da geht es gewiss nachts aus und trägt das ge¬
stohlene Gut nach Hause; denn am Tage wird es sich doch vor
den Leuten schämen?
Vater. Schämen? Es weiss gar nicht einmal, wie es das
machen soll; das fällt ihm nicht ein. Es geht vielmehr am hellen,
lichten Tage aus und bestiehlt die Felder und Gärten; ja, es ist
so unverschämt, sich hinein zu schleichen und zu mausen, während
die Leute auf dem Felde sind.