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„Nicht wahr, du glaubst doch auch, daß ich es behalten werde?" 
fragte sie; „der liebe Gott wird es nicht von mir nehmen!" 
Und der alte Mann — es^war der Tod selbst — nickte so sonder¬ 
bar; das konnte ebensogut ja wie nein bedeuten. Und die Mutter 
schlug die Augen nieder, und Tränen rollten ihr die Wangen herunter. 
Der Kopf ward ihr so schwer; in drei Tagen und drei Nächten hatte 
sie kein Auge zugemacht, und nun schlief sie, aber nur eine Minute; 
dann fuhr sie auf und bebte vor Kälte. „Was ist das?" fragte sie und 
sah sich nach allen Seiten um. Aber der alte Mann war fort, und ihr 
kleines Kind war fort: er hatte es mit sich genommen. Und dort in 
der Ecke schnurrte und surrte die alte Uhr; das schwere Bleigewicht lief 
bis auf den Fußboden herab — bums! — da stand auch die Uhr still. 
2. Aber die arme Mutter stürzte zum Hause hinaus und rief 
nach ihrem Kinde. Draußen, mitten im Schnee, saß eine Frau in 
langen, schwarzen Kleidern, die sprach: „Der Tod ist bei dir in deiner 
Stube gewesen, ich sah ihn mit deinem kleinen Kinde davoneilen. 
Er schreitet schneller als der Wind und bringt niemals zurück, was 
er genommen hat!" 
„Sage mir bloß, welchen Weg er gegangen ist!" sagte die Mutter; 
„sage mir den Weg, und ich werde ihn finden." 
„Ich kenne ihn," sagte die Frau in den schwarzen Kleidern, 
„aber bevor ich ihn dir sage, mußt du mir alle die Lieder vorsingen, 
die du deinem Kinde vorgesungen hast. Ich liebe diese Lieder, ich 
habe sie früher gehört; ich bin die Nacht und sah deine Tränen, als 
du sie sangst." 
„Ich will sie alle, alle singen!" sagte die Mutter. „Aber halte mich 
nicht auf, damit ich ihn einholen, damit ich mein Kind finden kann!" 
Aber die Nacht saß stumm und still. Da rang die Mutter die 
Hände, sang und weinte. Und es gab viele Lieder, aber noch mehr 
Tränen! Und dann sagte die Nacht: Geh rechts in den düstern 
Fichtenwald hinein; dahin sah ich den Tod mit dem kleinen Kinde 
seinen Weg nehmen." 
3. Tief drinnen im Walde kreuzte sich der Weg, und sie wußte 
nicht mehr, welche Richtung sie einschlagen sollte. Da stand ein 
Dornbusch, der hatte weder Blätter noch Blumen; aber es war ja 
auch um die kalte Winterzeit, und Eiszapfen hingen an den Zweigen. 
„Hast du nicht den Tod mit meinem kleinen Kinde vorübergehen 
sehen?" — „Ja," sagte der Dornbusch, „aber ich sage dir nicht, welchen 
Weg er genommen hat, wenn du mich nicht zuvor an deinem Busen 
erwärmen willst! Ich friere hier tot, ich werde zu lauter Eis!" 
Und sie drückte den Dornbusch an ihre Brust, so fest, daß er recht 
auftauen könne. Und die Dornen drangen in ihr Fleisch ein, und ihr
	        
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