Full text: [Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband]] (Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband])

Becker: Kalypso. Willmann: Der Schiffbruch. 91 
Stimme ein munteres Liedchen zur Arbeit. Sie erkannte sogleich den 
Hermes und empfing ihn voller Verwunderung über den seltenen Besuch. 
Er aber verkündigte ihr den strengen Befehl des Vaters der Götter 
und hieß sie den Odysseus alsbald entlassen, da die Götter die Rück¬ 
kehr desselben beschlossen hätten. Als er so sprach, da erschrak die 
Göttin und brach in bange Klagen aus über der Götter Grausamkeit 
und neidisches Herz; jedoch versprach sie zu gehorchen aus Furcht vor 
dem Zorne und der Rache des Zeus. Hermes hatte unterdessen durch 
ein gastfreundliches Mahl sich gestärkt; denn auch die Götter bedürfen 
der Nahrung, aber sie essen nicht sterbliche Speisen, sondern eine Götter¬ 
nahrung, Ambrosia genannt, und trinken einen Göttertrank, den die 
Dichter Nektar nennen. Jetzt stand er wieder auf, schärfte der Kalypso 
noch einmal das Gebot der Götter ein und verließ sie eilig. 
Kalypso ging alsbald, den Odysseus aufzusuchen. Sie fand ihn traurig 
sitzend am Gestade und redete ihn liebreich an. „Armer Freund," sprach sie, 
„verzehre hier nicht länger in Betrübnis und Schwermut dein Leben; 
ich fühle deinen Kummer mit dir; ich bin auch bereit dich von mir zu 
lassen. Aber du selber mußt für ein Fahrzeug sorgen. Geh in den 
Wald, suche dir Stämme aus, behaue sie mit der Axt, die ich dir geben 
will, und füge die starken Balken zu einem festen Floß zusammen. 
Ruderer kann ich dir nicht geben, denn ich habe hier niemanden, aber 
mit Speise und Trank und mit Kleidern will ich dich reichlich versorgen, 
und einen sanften Fahrwind will ich dir mitgeben vom Lande aus, 
daß er dich eine Strecke ins Meer begleite. Wollen es dann die übrigen 
Götter gestatten, so hoffe ich, du wirst dein liebes Vaterland bald und 
ohne Gefahr erreichen". Odysseus sprang auf, ein freudiger Schrecken 
ergriff ihn bei diesen Worten. Er eilte in den Wald mit Axt, Beil, 
Bohrer und Nägeln, fällte sich zwanzig Fichtenstämme und zimmerte 
daraus ein Floß, das nach viertägiger unermüdeter Arbeit fertig da 
lag, mit Mast, Steuer und Segelstange ausgerüstet. Kalypso gab 
das Segel dazu und füllte dem Helden sein Schiff mit Schläuchen und 
Körben voll süßen Wassers, voll Weines und herrlicher Speisen, und 
am fünften Tage begleitete sie ihn selbst ans Ufer, und er stieg freudig 
ein. Sie sandte ihm einen frischen Fahrwind nach, und er steuerte 
rüstig auf der unabsehbaren Wasserfläche hin, am Tage nach der Sonne, 
bei der Nacht nach den Gestirnen sich richtend. 
48. Der Schiffbruch. 
Nach O. Willmann. Lesebuch aus Homer. Oldenburg, 1875. 
Kein Schlaf siel auf Odysseus' Wimpern. Siebzehn Tage schiffte 
er so über das Meer, am achtzehnten wurden die schattigen Berge des 
Phäakenlandes sichtbar; wie ein gewölbter Schild erschien es „ihm im 
dämmernden Meere. Da erblickte ihn, zurückkehrend von den Äthiopen, 
der Herrscher Poseidon. Neuer Grimm erfaßte des Gottes Herz, und das 
Haupt schüttelnd sprach er zu sich im Geiste: „Verwünscht! Da haben 
ja die Götter sich anders besonnen wegen des Odysseus, während ich bei 
den Äthiopen war, und er ist dem Phäakenlande schon nahe, wo ihm
	        
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