Becker: Kalypso. Willmann: Der Schiffbruch. 91
Stimme ein munteres Liedchen zur Arbeit. Sie erkannte sogleich den
Hermes und empfing ihn voller Verwunderung über den seltenen Besuch.
Er aber verkündigte ihr den strengen Befehl des Vaters der Götter
und hieß sie den Odysseus alsbald entlassen, da die Götter die Rück¬
kehr desselben beschlossen hätten. Als er so sprach, da erschrak die
Göttin und brach in bange Klagen aus über der Götter Grausamkeit
und neidisches Herz; jedoch versprach sie zu gehorchen aus Furcht vor
dem Zorne und der Rache des Zeus. Hermes hatte unterdessen durch
ein gastfreundliches Mahl sich gestärkt; denn auch die Götter bedürfen
der Nahrung, aber sie essen nicht sterbliche Speisen, sondern eine Götter¬
nahrung, Ambrosia genannt, und trinken einen Göttertrank, den die
Dichter Nektar nennen. Jetzt stand er wieder auf, schärfte der Kalypso
noch einmal das Gebot der Götter ein und verließ sie eilig.
Kalypso ging alsbald, den Odysseus aufzusuchen. Sie fand ihn traurig
sitzend am Gestade und redete ihn liebreich an. „Armer Freund," sprach sie,
„verzehre hier nicht länger in Betrübnis und Schwermut dein Leben;
ich fühle deinen Kummer mit dir; ich bin auch bereit dich von mir zu
lassen. Aber du selber mußt für ein Fahrzeug sorgen. Geh in den
Wald, suche dir Stämme aus, behaue sie mit der Axt, die ich dir geben
will, und füge die starken Balken zu einem festen Floß zusammen.
Ruderer kann ich dir nicht geben, denn ich habe hier niemanden, aber
mit Speise und Trank und mit Kleidern will ich dich reichlich versorgen,
und einen sanften Fahrwind will ich dir mitgeben vom Lande aus,
daß er dich eine Strecke ins Meer begleite. Wollen es dann die übrigen
Götter gestatten, so hoffe ich, du wirst dein liebes Vaterland bald und
ohne Gefahr erreichen". Odysseus sprang auf, ein freudiger Schrecken
ergriff ihn bei diesen Worten. Er eilte in den Wald mit Axt, Beil,
Bohrer und Nägeln, fällte sich zwanzig Fichtenstämme und zimmerte
daraus ein Floß, das nach viertägiger unermüdeter Arbeit fertig da
lag, mit Mast, Steuer und Segelstange ausgerüstet. Kalypso gab
das Segel dazu und füllte dem Helden sein Schiff mit Schläuchen und
Körben voll süßen Wassers, voll Weines und herrlicher Speisen, und
am fünften Tage begleitete sie ihn selbst ans Ufer, und er stieg freudig
ein. Sie sandte ihm einen frischen Fahrwind nach, und er steuerte
rüstig auf der unabsehbaren Wasserfläche hin, am Tage nach der Sonne,
bei der Nacht nach den Gestirnen sich richtend.
48. Der Schiffbruch.
Nach O. Willmann. Lesebuch aus Homer. Oldenburg, 1875.
Kein Schlaf siel auf Odysseus' Wimpern. Siebzehn Tage schiffte
er so über das Meer, am achtzehnten wurden die schattigen Berge des
Phäakenlandes sichtbar; wie ein gewölbter Schild erschien es „ihm im
dämmernden Meere. Da erblickte ihn, zurückkehrend von den Äthiopen,
der Herrscher Poseidon. Neuer Grimm erfaßte des Gottes Herz, und das
Haupt schüttelnd sprach er zu sich im Geiste: „Verwünscht! Da haben
ja die Götter sich anders besonnen wegen des Odysseus, während ich bei
den Äthiopen war, und er ist dem Phäakenlande schon nahe, wo ihm