Mythendichtung. — Nibelungentreue.
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Glaube, daß die Sonne von einem der sie stetig verfolgenden Wölfe verschluckt
werden soll, daß Götter und Riesen einmal ihren Zwist in einer ungeheuren
Schlacht zum Austrag bringen sollen und daß die Götter — die großen, dem
Volke heiligen Götter — da ihren Tod finden werden. Doch sterben sie nicht
ungerächt, denn das würde kein Nordmann sich denken können; Odins junger
Sohn reißt den Rachen des Fenriswolfs auseinander und es kommt ein neues
Geschlecht von Göttern und Menschen empor, die das Leben weiterführen können.
Die Lebenskraft ist vom Untergange gerettet, wenn auch mit genauer Not und
durch den härtesten Kampf.
Axel Olrik, Nordisches Geistesleben in heidnischer und frühchristlicher Zeit.
Übertragen von Wilhelm Ranisch. Heidelberg 1908 (Winter).
21. Nibelungentreue.
Wer sind die Nibelungen, von deren Treue der Reichskanzler Bülow in
der Sitzung des Deutschen Reichstags vom 29. März 1909 sprach?
Die Nibelungen waren zuerst ein sagenhaftes, unterirdisch lebendes, mächtiges
Zwergengeschlecht, das den reichen Schatz an rotem Gold und an funkelndem
Edelgestein, den Nibelungenhort, für sich gesammelt hatte. Siegfried, der Drachen¬
töter, hat die Nibelungen überwunden, er hat ihnen den Hort abgerungen und
er hat auch dem Zwerg Alberich, den er bezwungen hatte, die Tarnkappe ge¬
nommen, den Mantel, der nicht nur den, der ihn trägt, unsichtbar macht sondern
ihm auch zu seiner eigenen Kraft die Kraft von zwölf starken Männern dazugibt.
Seitdem Siegfried den Nibelungenhort gewonnen hatte, wurden seine Mannen
als Nibelungen bezeichnet. Als dann später der Burgunderheld Hagen von
Tronje Siegfried meuchlerisch getötet und den Nibelungenhort für die Burgunder,
die zu Worms am Rhein ihren Wohnsitz hatten, erworben hatte, da hießen
nunmehr die Burgunder Nibelungen.
Das Nibelungenlied ist mit Fug und Recht als das Hohelied von
deutschem Heldenmut und deutscher Heldentreue bezeichnet worden. Da
ist die Treue die vornehmste Tugend des Helden, die Untreue das schwerste
Verbrechen, das verhängnisvoll die Vergeltung rettungslos über das Haupt des
Untreuen herabzieht. Aus dem Verrat, den die Burgunderkönige an dem Helden
Siegfried im Odenwald begehen ließen, aus der Blutschuld, die sie damals auf
sich genommen, entwickelt sich mit innerer Notwendigkeit all das Leid und alle
die Not, entwickelt sich der Untergang des ganzen Geschlechts der Burgunder.
Und das Lob und der Ruhm der Treue zieht durch das ganze Lied hindurch.
Zunächst der Treue zwischen dem Könige und seinen freien Dienstmannen. Wie
diese auf Befehl ihres Königs ohne jede Überlegung in den Kampf und in den
sicheren Tod gehen, so setzen die Könige ihr Leben aufs Spiel um das der
Dienstmannen zu retten. Als die meisten der Burgunder schon gefallen sind,
da läßt Kriemhilde ihren Brüdern den freien Abzug anbieten, wenn sie Hagen,
dem sie die Rache geschworen, in ihren Händen zurückließen. Aber mit stolzen