146 Mittlere Geschichte.
traf glücklich den Apfel, ohne seines Söhnleins Haupt zu verletzen. Der
Vogt hatte aber genau auf Tell'ö Miene und Gebehrde geachtet, und wie
alle Gott priesen, daß er dem braven Manne geholfen, sprach er zu ihm:
„Du bist ein wackerer Schütz! doch sag' mir an: Ich sah, wie du einen
andern Pfeil hinten in's Koller stecktest, wofür war der?" Da säumte
Tell mit der Antwort und wollte sich entschuldigen: „Das sei so Schützen-
brauch!" Doch der Vogt in feinem Argwohn nahm dies nicht an und
sprach: „Tell, es ist ein anderer Grund, den sag' mir frei, du sollst
deines Lebens sicher fein." Da erwiederte Tell: „Wohlan Herr, weil ihr
mich meines Lebens versichert habt, so will ich euch die Wahrheit sagen.
Wenn ich mein Kind getroffen, dann hätte ich euch felbst mit dem andern
Pfeil erschossen und eurer nicht gefehlt." Wie der Vogt dies vernahm,
sprach er: „Deines Lebens habe ich dich gesichert und will dies halten.
Weil ich aber deinen bösen Willen erkannt, so laß ich dich binden und an
einen Ort bringen, wo du weder Sonne noch Mond sehen sollst." Und
er ließ ihn mit Ketten fesseln und führte ihn mit sich über den Vicrwald-
stättersee; denn er wollte ihn nach Küßnacht bringen auf fein Schloß und
dort in den Thurm werfen. Als sie aber auf dem See fuhren, erhob
sich der wilde Wind, welcher der Föhn heißt, und die Wellen schlugen so
hoch auf, daß dem Landvogt ein Graufeu ankam und ihm bange ward
um sein Leben. In solcher Todesnoth ließ er dem Tell, welcher gebun-
den dalag, die Fesseln lösen, auf daß der im Rudern erfahrene Mann
ihn errette. Nun steuerte Tell das Fahrzeug mit Macht gegen Wind und
Wellen. So kamen sie bis zum Arenberge, wo dicht an der Küste eine
Felsplatte über das Wasser hervorragt, die seitdem den Namen „Tellen-
platte" führt. Da ergreift Tell feine Armbrust, springt hinaus auf die
Platte, indem er mit kräftigem Fuß dem Schiffe einen Stoß gab, daß es
weit hinaus in den See treibt. Tell erklimmt den Felsen und entrinnt
durch das Land Schwyz. Das von den Wogen lange gepeitschte Schiff
erreicht endlich Brunnen, wo Geßler mit seinem Gefolge an's Land stieg,
um sich nach Küßnacht zu begeben. Tell aber erwartete ihn aus dem
Hinterhalte bei der „hohlen Gasse." Als nun Geßler durch den Engpaß
ritt, da schwirrte der Pfeil und flog in das Herz des strengen Herrn,
daß derselbe tobt zur Erde fiel.
Befreiung 3. In der Nacht nun, als das neue Jahr 1308 begann, kam ein
der junger Gesell aus Stanz, der auf dem Rütli mitgeschworen hatte, vor
Waldstätte die Beste Roßberg, darin war eine Magd, die ihn liebte. Diese be-
1308. redete er, sie solle ihm ein Seil zum Fenster herunterlassen. Der junge
Geselle aber hatte noch 20 Genossen mitgebracht und alle zogen sich am
Seile in das Schloß hinauf. Darin fingen sie den Amtmann und sein
Gesinde und brachen die Burg.
Zu Sarnen ging der Landenberger am Neujahrsmorgen m die
Kirche, um die Messe zu hören. Siehe, da traf er am Thor 20 Männer
aus Unterwalben, welche ihm nach ber Gewohnheit Lämmer, Ziegen, Hafen
unb Geflügel zum Neujahrsgruß brachten. Er hieß sie frohen Muthes
die Gaben in's Schloß tragen. Aber kaum waren sie in bas Vurgthor
eingetreten, als einer in's Horn stieß. Auf dieses Zeichen steckten die
Männer spitzige Eisen, welche sie unter ihren Kleidern verborgen gehalten,
auf ihre Stäbe und 30 Andere eilten herbei, die bis dahin in einem