Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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34. Da er ihn also nannte, der kühne junge Mann, 
Mit seinem Namen Ortwein, da sah ihn wieder an 
Gudrun die arme; ob es ihr Bruder wäre, 
Das wüßte sie so gerne; so würd' erleichtert ihres Herzens Schwere. 
35. Sie sprach: „Wie ihr auch heißet, ihr seid untadelig. 
Einem, den ich kannte, gleicht ihr seltsamlich; 
Er war geheißen Herwig und war von Seelanden; 
Wenn der Held noch lebte, so löst' er uns aus diesen strengen Banden. 
36. „Ich bin auch ihrer eine, die mit Hartmuts Heer 
Im Streit gefangen wurden und geführet über Meer. 
Ihr suchet Gudrnnen: das thut ihr ohne Noth, 
Die Magd von Hegelingen fand vor großem Leid den Tod." 
37. Da thränten Ortweinen seine Augen licht; 
Die Kunde ließ auch Herwig unbeweinet nicht. 
Als sie das vernahmen, daß gestorben wäre 
Die Magd von Hegelingen, das belud ihr Herz mit großer Schwere. 
38. Als sie die Helden beide vor ihr weinen sah, 
Die geraubte Jungfrau sprach zu ihnen da: 
„Ihr gehabt euch also bei dieser Trauermäre, 
Als ob die edle Gudrun euch verwandt, ihr guten Helden, wate." 
39. Da sprach der König Herwig: „Wohl traur' ich um die Maid, 
Sie ist mein Weib gewesen auf alle Lebenszeit. 
Sie war mir zugeschworen mit Eiden fest und stäten; 
Nun hab' ich sie verloren durch des alten Ludwigs grimme Räthe." 
40. „Ihr wollt mich betrügen", sprach die arme Magd, 
„Von Herwigens Tode ward mir oft gesagt. 
Die höchste Wonn' auf Erden sollt' ich in ihm gewinnen; 
Wär' der noch am Leben, so hätt' er längst mich geführt von hinnen." 
41. Da sprach der edle Ritter: „So seht meine Hand, 
Ob ihr dies Gold erkennet: Herwig bin ich genannt. 
Mit diesem Mahlschatz sollt' ich Gudrnnen mimten; _ 
Seit ihr denn meine Gattin, wohlan, ich führ' euch minniglich von hinnen." 
42. Wie nach der Hand sie schaute und nach dem Ringelein, 
Da lag in dem Golde von Abale der Stein, 
Ter beste, den sie je gesehn all ihres Lebens Tage; 
Einst hatt' ihn Gudrune, die schöne, selber an der Hand getragen. 
43. Sie lächelte vor Wonne; da sprach das Mägdelein: 
„Das Gold erkenn' ich wieder, vor Zeiten war es mein. 
Nun sollt ihr dieses sehen, das mein Gebieter sandte, 
Da ich armes Mädchen mit Freuden war in meines Vaters Lande." 
44. Wie nach der Hand er schaute und das Gold ersah, 
Herwig der edle sprach zu Gudrun da: 
„Dich hat auch anders niemand als Königsblnt getragen; 
Nun hab' ich Freud' und Wonne gesehn nach langem Leid und bösen Tagen." 
45. Da umschloß er mit den Armen die herrliche Maid; 
Was sie gesprochen hatten, gab ihnen Lieb und Leid. 
Auch bedeckt' er mit Küssen den Mund, die niemand zählte, 
Ihr und Hildebnrgeu, der minniglichen Magd, der auserwählten.
	        
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