Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

Altdeutsche Literatur. 
2. Wie süß Horand sanug. 
Als die Nacht ein Ende nahm und es begann zu tagen, 
Horand hub an zu singen, daß ringsum in den Hagen 
Alle Vögel schwiegen vor seinem süßen Sange. 
Die Leute, die da schliefen, lagen in den Betten nicht mehr lange. 
Die Stimme klang ihm voller und voller immerfort; 
Herr Hagen hört' es selber bei seinem Weibe dort: 
Aus der Kemenate mußten sie an die Zinne. 
Der Gast war wohl berathen: die junge Königin ward des Sanges inne. 
Des wilden Hagen Tochter und ihre Mägdelein 
Saßen da und lauschten, wie selbst die Vögelein 
Auf des Königs Hofe vergaßen ihr Getöne; 
Wohl hörten auch die Helden, wie der von Dänenlanden sang so schöne. 
Die Thier' im Walde ließen ihre Weide stehn; 
Die Würme, die da sollten in dem Grase gehn, 
Die Fische, die da sollten in dem Wasser fließen, 
Die ließen ihre Fährte: wohl durft' ihn seiner Künste nicht verdrießen. 
Was er da singen mochte, das deuchte Niemand lang. 
Vergessen in den Chören war der Pfaffen Sang; 
Auch die Glocken klangen nicht mehr so wohl als eh: 
Allen die ihn hörten, war nach Horanden weh. 
Da ließ ihn zu sich bringen das schöne Mägdelein: 
Ohn' ihres Vaters Wissen, gar heimlich sollt' es sein: 
Auch hätte sie's der Mutter, Frau Hilden, gern verhohlen, 
Daß der Held so heimlich sich in ihr Kämmerlein gestohlen. 
Sie hieß den Helden sitzen: „Nun hebt noch einmal an,“ 
Sprach das edle Mägdelein: „was eure Stimme kann, 
Das lüstet mich zu hören: eures Mundes Töne 
Sind mir eine Kurzweil über alle Freud' und alle Schöne.“ 
Da begann er eine Weise, die war von Amile, 
Kein Ohr hat sie vernommen, noch lernt' ein Mund sie je: 
Die hat er singen hören auf den wilden Fluten. 
Mit dieser Weise diente Horand am Hof der schönen Maid, der guten. 
Als er die süße Weise zu Ende nun ihr sang, 
Da sprach das schöne Mägdlein: „Freund, nun habe Dank.“ 
Sie gab ihm von dem Finger, nie sah man Gold so gutes. 
Sie sprach: „Ich lohn' euch gern: dazu bin ich gar williges Muthes.“ 
Was ihm die Frau geboten, das wollt' er alles nicht, 
Außer einem Gürtel: „Ob Einer tadelnd spricht, 
Daß ich zuviel genommen, schön Mägdlein, der bedenke, 
Ich bring' ihn meinem Herren: der empfängt ihn gerne zum Geschenke.“ 
Sie sprach: Wer ist dein Herr? und wie ist er genannt? 
Trägt er auch die Krone und hat sein eigen Land? 
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