Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

Alkdeutsche Literatur. 
Das Meer allenthalben noch mit dem Eise floß, 
Das sich zerlassen wollte; ihre Sorge die war groß. 
Durch die Hemden schienen weiß wie der Schnee 
Die minniglichen Glieder; ihnen schuf die Scham vor Fremden Weh. 
Herwig der edle ihnen guten Morgen bot; 
Wohl wär den Heimathlosen ein guter Morgen Noth. 
Von ihrer bösen Meisterin hörten sie nur Schelten: 
Guten Morgen, guten Abend kam den Minniglichen selten. 
„Ihr sollt' uns hören lassen,“ sprach Herr Ortewein, 
„Wem diese reichen Kleider auf dem Strande sein, 
Oder Wem ihr waschet: ihr beiden seid so schöne, 
Wer thut euch das zu Leide? daß ihn Gott vom Himmel immer höhne! 
„Wem ist dieses Erbe und dieses reiche Land, 
Dazu die guten Burgen? wie ist er genannt? 
Daß er euch ohne Kleider läßt so schmachvoll dienen: 
Wollt' er auf Ehre halten, euch anders zu behandeln würd' ihm ziemen.“ 
Noch zitterten vor Kälte die schönen Mägdelein; 
Da sprach der König Herwig: „Möchte das doch sein, 
Daß es euch Minnigliche deuchte keine Schande, 
Wenn ihr edeln Mädchen unsre Mäntel trüget auf dem Strande.“ 
Da sprach die Tochter Hildens: „Gott laß euch selbst gedeihn 
Eure Mäntel beiden! Nie an dem Leibe mein 
Sollen Jemands Augen Männerkleider sehen.“ 
Wenn sie sich erkennten, ihnen könnte Liebres nicht geschehen. 
Oftmals blickte Herwig die Jungfrau forschend an; 
Sie schien so schön dem Degen und auch so wohlgethan, 
Daß es ihn im Herzen oft zum Seufzen brachte: 
Sie glich so sehr der Einen, an die er oft gar inniglich gedachte. 
Da sprach von Ortland wieder der König Ortwein: 
„Ich frag' euch Mädchen beide, sollt euch bekannt nicht sein 
Ein fremdes Ingesinde, das kam zu diesem Land? 
Eine war darunter, die wurde Gudrun genannt. 
Sie sprach: 
Ich bin auch Eine deren, die mit Hartmuths Heer 
Im Streit gefangen wurden und geführet über Meer. 
Ihr suchet Gudrunen: das thut ihr ohne Noth, 
Die Magd von Hegelingen fand vor großem Leid den Tod.“ 
Da thränten Ortweinen seine Augen licht; 
Die Kunde ließ auch Herwig unbeweinet nicht. 
Als sie das vernahmen, daß gestorben wäre 
Die Magd von Hegelingen, das belud ihr Herz mit großer Schwere. 
Als sie die Helden beide vor ihr weinen sah, 
Die geraubte Jungfrau sprach zu ihnen da: 
„Ihr gehabt euch also bei dieser Trauermäre, 
Als ob die edle Gudrun euch verwandt, ihr guten Helden, wäre.“ 
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