Full text: Lesebuch für Schlesien

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Als sie zwei Jahr alt war, da war sie buchstäblich Anton stets auf den 
Fersen, so schnell sie das auf irgendeine Weise nur ausführen konnte. 
Ihr kleines Naschen drückte sie flach an die Scheiben, um ihrem großes! 
Bruder nachsehen 31t können, wenn er zur Schule ging. 
2. Ihres fünften Geburtstages kann ich mich deutlich erinnern. Wir 
Jungen wateten durch knietiefen Schnee nach Hanse aus der Schule, heim 
zum Schokoladenschmause zu Ehren der kleinen Schwester. Die sah heute 
aus wie ein kleiner Engel, mit den langen, hellgelben Locken, ein hellblaues 
Band um das faltige, weiße Kleid, und ihre strahlenden blauen Angen! 
Kinder, ihr könnt es glauben, sie war reizend! 
Anton hatte ihr für sein Wochengeld eine große Puppe mit hölzernem 
Kopfe gekauft; Maren, die Kinderfrau, hatte sie angezogen. Ein seidenes 
Kleid mit Perlen und Samt! Damals kannte man die Wachspuppen und auch 
die Porzellauköpfe noch nicht, und alle fanden sie reizend trotz des bemalten 
Holzkopfes. Schwesterchen fand das auch; denn sie küßte den Puppenkopf 
so lange, bis ihr kleiner Mund schwarz von dem gemalten Haar wurde. 
Vater, der sonst ein strenger Mann war, wurde ganz freundlich, 
wenn er zu ihr kam. Er ließ sie auf seinem Knie „Hopp, hopp, Reiter" 
machen und „fällt er in den Sumpf, macht der Reiter plumps". 
3. Eiues Tages bekam Schwesterchen vom Vater Schläge, weil sie 
so lange an der Lampe herumgedreht hatte, bis sie umgefallen und das 
Öl über das Tischtuch geflossen war. Es schnitt ins Herz, sie schreien zu 
hören: „Vater, Vater, nicht hauen, nicht hauen!" Aber Vater, der alte 
Soldat, hielt streng auf Gehorsam, und Schwesterchen bekam ihre Strafe. 
Nie vergesse ich's, wie Anton dabei war. Kreideweiß war er im Gesicht 
und saß, das Haupt in den Händen unb die Finger fest in den Ohren, 
in der Alltagsstube. Und als das Schwesterchen angeheult kam, und wir 
den Vater die Tür zum Arbeitszimmer zumachen hörten, da weinte Anton, 
als ob er selber die Schlüge bekommen hätte. 
4. Noch eins muß ich erzählen. Vater hatte in seinem Arbeitszimmer 
auf einem Schrank eine weiße Marmorfigur, die ihm einst Graf Holten 
aus Italien mitgebracht hatte. „Das ist ein Meisterwerk", pflegte Vater 
zu sagen, und niemand durfte sie anrühren. Um sie zu reinigen, stieg 
Vater selbst auf einer Leiter hinauf und nahm sie herunter. Dann trug 
er die Figur in die Alltagsstube und stellte sie auf das Fensterbrett mit 
dem Gesicht nach der Straße, als ob die Figur zu ihrem Vergnügen zum 
Fenster hinaussehen sollte. 
Eines Tages sollten wir eine Spazierfahrt machen. Wir kamen aus 
der Schule nach Hanse gesprungen, so vergnügt, wie ein paar Jungen nur 
sein können im Gedanken an eine Spazierfahrt. Als wir ins Vorzimmer 
kamen, schien es uns, als ob wir Schwesterchens Stimme in Vaters Stube 
hörten. Anton öffnete die Tür. In demselben Augenblick gab es drinnen 
einen dumpfen Fall, und wir sahen Schwesterchen von Vaters Schrank 
fallen, wo sie hinaufgeklettert war. Auton half ihr wieder auf. Blut lief
	        
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