Full text: Himmelskunde und Klimakunde

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Der Stadtrichter Philippides war ein Mann von vielen guten 
Eigenschaften, ein ehrbarer, nüchterner, seinem Amte fleißig vorstehender 
Mann, der jedermann mit großer Geduld anhörte, den Leuten freund— 
lichen Bescheid gab und in dem allgemeinen Rufe stand, daß er un— 
bestechlich sei. Nur hatte er einen einzigen kleinen Fehler, und der war: 
daß, so oft zwei Parteien vor ihn kamen, ihm allemal derjenige recht 
zu haben schien, der zuletzt gesprochen hatte. 
Der Zahnarzt Struthion und der Eseltreiber Anthrax kamen also 
wie brennend vor diesen würdigen Stadtrichter gelaufen und brachten 
beide zugleich mit großem Geschrei ihre Klage vor. Er hörte sie mit 
seiner gewöhnlichen Langmut an, und da sie endlich beide fertig oder 
des Schreiens müde waren, zuckte er die Achseln, und der Handel deuchte 
ihm einer der verworrensten von allen, die ihm jemals vorgekommen 
waren. „Wer von euch beiden ist denn eigentlich der Kläger?“ fragte er. 
„Ich klage gegen den Eselmann, antwortete Struthion, daß er 
unsern Kontrakt gebrochen hat.“ „Und ich, sagte dieser, klage gegen den 
Zahnarzt, daß er sich unentgeltlich einer Sache angemaßt hat, die ich 
ihm nicht vermietet hatte“ „Da haben wir zwei Kläger, sagte der 
Stadtrichter, und wo ist der Beklagte? Ein wunderlicher Handel! Er— 
zählt mir die Sache noch einmal mit allen Umständen, aber einer nach 
dem andern; denn es ist unmöglich, klug daraus zu werden, wenn beide 
zugleich schreien.“ 
„Hochgeachteter Herr Stadtrichter, sagte der Zahnarzt, ich habe ihm 
den Gebrauch des Esels auf einen Tag abgemietet. Es ist wahr, des 
Esels Schatten wurde dabei nicht erwähnt. Aber wer hat auch jemals 
gehört, daß bei einer solchen Miete eine Klausel wegen des Schattens 
wäre eingeschaltet worden? Es ist ja, beim Herkules! nicht der erste 
Esel, der zu Abdera vermietet wird.“ — „Da hat der Herr recht,“ sagte 
der Richter. „Der Esel und sein Schatten gehen miteinander, fuhr 
Struthion fort, und warum sollte der, der den Esel selbst gemietet hat, 
nicht auch den Nießbrauch seines Schattens haben?“ „Der Schatten ist 
ein Accessorium (Zubehör), das ist klar,“ versetzte der Stadtrichter. 
„Gestrenger Herr, schrie der Eseltreiber, ich bin nur ein gemeiner 
Mann; aber das sagen mir meine fünf Sinne, daß ich nicht schuldig 
bin, meinen Esel umsonst in der Sonne stehen zu lassen, damit sich ein 
andrer in seinen Schatten setze. Ich habe dem Herrn den Esel ver— 
mietet, und er hat mir die Hälfte voraus bezahlt, das gesteh' ich; aber 
ein andres ist der Esel, ein andres ist sein Schatten. „Auch wahr!“ 
murmelte der Stadtrichter. „Will er diesen haben, so mag er halb so 
viel dafür bezahlen als für den Esel selbst; denn ich verlange nichts, 
als was billig ist, und ich bitte, mir zu meinem Rechte zu verhelfen.“ 
„Das Beste, was ihr hierbei thun könnt, sagte Philippides, ist, euch 
in Güte miteinander abzufinden. Ihr, ehrlicher Mann, laßt immerhin 
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