78 Das heilige römische Reich deutscher Nation.
befriedigte, kam Karl der Kahle mit einer burgundischen Streitmacht
zurück, Ludwig sah sich Plötzlich verlassen und verrathen, floh zurück und
vertrug sich wieder mit seinem Bruder. Karls Kinder machten ihm
gleichfalls unaufhörlich Sorgen; seine Tochter Judith, die als Wittwe
eines angelsächsischen Königs zurückkehrte, gab durch ihr Leben allge¬
meines Aergerniß und ließ sich zuletzt von einem Grafen von Flandern
entführen; sein Sohn Karlmann, der zum Geistlichen bestimmt war,
empörte sich wiederholt und plünderte wie ein normannischer Häuptling,
wurde zuletzt gefangen, geblendet, entwich zu seinem Oheim Ludwig, der
ihn mit einer Abtei versorgte,- in welcher er endlich starb. Auch der
andere Sohn, Ludwig, empörte sich, fiel mit den Bretagnern in seines
Vaters Reich ein, wurde von einem tapfern Grafen geschlagen und er¬
hielt von seinem Vater Verzeihung sammt einer Grafschaft. Die Großen
fanden bei einem solchen Unwesen in der herrschenden Familie die beste
Gelegenheit ihre Vorrechte und Besitzungen zu vergrößern, denn wollte
Karl der Kahle gegen Pipin, oder Lothar, oder Ludwig oder seine eigenen
Kinder, oder gegen die Bretagner und Normannen ihre Unterstützung,
so mußte er sie mit Privilegien und Lehen erkaufen und konnte ihnen erst
nichts anhaben, wenn sie dessenungeachtet ihn im Stiche ließen oder gar
verriethen. Karl der Kahle anerkannte bereits die Erblichkeit der großen
Lehen; unter ihm verwandelten sich dadurch die ehemals königlichen
Aemter in Herrschaften der Großen über die Amtssprengel, eine Ver¬
kehrung der alten Ordnung, die nicht viel später auch in Deutschland
herrschend wurde. Ein von dem guten Willen seiner Vasallen ab¬
hängiger König konnte die gemeinen Freien unmöglich gegen die Ueber-
griffe der mächtigen Adeligen schützen, ebenso wenig aber auch gegen
auswärtige Feinde, denn die dem Schauplatze der Gefahr entfernteren
Herren fanden es meistens nicht nothwendig auszuziehen, weil sie der
König für die Verweigerung der Heeresfolge nicht strafen konnte. Sie
zogen es vor auf unzugänglichen Plätzen Burgen zu bauen, in welche
sie sich zurückzogen, wenn der Feind das offene Land verwüstete; die
Burgen bewährten sich ferner trefflich in den Fehden gegen Nach¬
barn, oder wenn es galt dem Könige Trotz zu bieten, daher wurden
diese Privatfcstungen immer zahlreicher, obwohl deren Bau auf Reichs¬
tagen verboten wurde. An Reichstagen fehlte es nämlich keineswegs
und auf denselben kamen besonders durch die Bemühungen der Bischöfe,
denen die Krone überhaupt den noch übrigen Rest von Ansehen ver¬
dankte, manche gute Beschlüsse zu Stande, aber der König hatte nicht
die Macht sie durchzuführen, wie er denn wirklich in Edikten klagt,
„daß dem Gesalbten des Herrn niemand gehorchen wolle." Das west¬
fränkische Reich war demnach einer Anarchie preisgegeben, die nur deß-
wegen seinen Untergang nicht herbeiführte, weil Karl der Große die