Full text: Deutsche Dichtung in der Neuzeit (Abt. 2)

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9. Verzeih mir, rief ich aus, ich meint' es gut; 
Soll ich umsonst die Augen offen haben? 
Ein froher Wille lebt in meinem Blut, 
Ich kenne ganz den Wert von deinen Gaben! 
Für andre wächst in mir das edle Gut, 
Ich kann und will das Pfund nicht mehr vergraben. 
Warum sucht' ich den Weg so sehnsuchtsvoll, 
Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll? 
10. Und wie ich sprach, sah mich das hohe Wesen 
Mit einem Blick mitleid'ger Nachsicht an; 
Ich konnte mich in ihrem Auge lesen, 
Was ich verfehlt und was ich recht gethan. 
Sie lächelte, da war ich schon genesen, 
Zn neuen Freuden stieg mein Geist heran; 
Ich konnte nun mit innigem Vertrauen 
Mich zu ihr nahn und ihre Nähe schauen. 
11. Da reckte sie die Hand ans in die Streifen 
Der leichten Wolken und des Dufts umher; 
Wie sie ihn faßte, ließ er sich ergreifen, 
Er ließ sich ziehn, es war kein Nebel mehr. 
Mein Auge konnt' im Thale wieder schweifen, 
Gen Himmel blickt' ich, er war hell und hehr. 
Nun sah ich sie den reinsten Schleier halten, 
Er floß um sie und schwoll in tausend Falten. 
12. „Ich kenne dich, ich kenne deine Schwächen, 
Ich U'eiß, was Gutes in dir lebt und glimmt!" 
So sagte sie, ich hör sie ewig sprechen — 
„Empfange hier, was ich dir lang bestimmt! 
Dein Glücklichen kann cs an nichts gebrechen, 
Der dies Geschenk mit stiller Seele nimmt: 
Ans Morgendnst gewebt und Sonnenklarheit, 
Der Dichtung Schleier ans der Hand der Wahrheit. 
13. Und wenn es dir und deinen Freunden schwüle 
Am Mittag wird, so wirf ihn in die Luft! 
Sogleich nmsänselt Abendwindes-Kühle, 
Umhancht euch Blnmen-Würzgernch und Duft. 
Es schweigt das Wehen banger Erdgcsühle, 
Zum Wolkenbette wandelt sich die Gruft; 
Besänftiget wird jede Lebenswclle, 
Der Tag wird lieblich, und die Nacht wird helle." 
14. So kommt denn, Freunde, wenn ans euren Wegen 
Des Lebens Bürde schwer und schwerer drückt, 
Wenn eure Bahn ein frisch erneuter Segen 
Mit Blumen ziert, mit goldnen Früchten schmückt. 
Wir gehn vereint dem nächsten Tag entgegen! 
So leben wir, so wandeln wir beglückt. 
Und dann auch soll, wenn Enkel um uns trauern, 
Zu ihrer Lust noch unsre Liebe dauern.
	        
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