Full text: [Geschichte des Mittelalters] (Theil 2)

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unter sich nur wenig verschieden *), der Verbreitung von Land zu Land 
freie Bahn eröffneten. 
Wir gehen zurück auf die Volkspoesie, die sich nicht entwickelt aus dem 
dichterischen Vermögen einzelner hervorstrahlender Talente, sondern aus dem 
lebendig poetischen Quell, welcher im Herzen eines ganzen Volkes entspringt 
und ihm als köstlichste Naturgabe verliehen ist, unbewußt, aus innerer Noth- 
wendigkeit schaffend und bildend, gleich wie im Munde des Volkes die 
Muttersprache sich entwickelt. Die Kunstpoesie ist die Frucht der Arbeit 
Einzelner, welche die Erscheinungen des Lebens nach ihrer individuellen 
Geistes- und Anschauungsweise aufnehmen und, zum Kunstideal erhoben, 
in verklärter Gestalt wiedergeben. Ihre Darstellung ist nicht das Leben 
selbst, sondern ein durch die Kunst erzeugtes und veredeltes Bild des 
Lebens. Zu einer vollständigen Entfaltung des poetischen Vermögens einer 
Nation gehört die eine wie die andere Seite, so wie Beides in der 
deutschen Dichtung die vollste Blüthe erreicht hat. 
In Sagen und Liedern, die durch fahrende Sänger von Burg zu 
Burg, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land getragen wurden, ent¬ 
wickelte sich der Reichthum des poetischen Stoffes im Volksleben, dessen 
sich die Dichter später in ihren künstlerischen Werken bedienten. So ist 
das Volksepos der Deutschen entstanden, in welchem Alles zusammeufließt, 
was Jahrhunderte laug das Leben der Nation bewegte und durchströmte; 
Geschichte und Sage ist lebendig geworden in dem Gedicht. Die geheim- 
uißvolle Werkstätte dieser allmählichen Entstehung dem wißbegierigen Auge 
der Neuzeit zu eröffnen ist erst theilweise gelungen; doch immerhin 
genügend, um von dem, was errungen ist, zu schließen auf das, was noch 
im Dunkeln liegt. 
Das größte und vollendetste Epos unserer Volkspoesie ist das schon 
früher erwähnte Nibelungenlied. In ihm vereinigen sich die Sagen¬ 
kreise aller deutschen Stämme: der niederrheinische, dessen Held 
Siegfried ist; der burgundische, mit seinen Helden Günther, 
Gernot und Giselher, mir Frau Ute der Königin, Kriemhild und 
Brunhild, und den tapfern Mannen der Könige, unter ihnen Hagen 
und Volker. Der dritte Sagenkreis ist der ostgothische von Dietrich 
von Bern und Hildebrand; des vierten Mittelpunkt ist Attila, der 
Hunnenkönig, und der Schauplatz die Etzelburg im heutigen Ungarn. 
Gewissenhaftes Studium hat aus dem mächtigen Gedichte bereits zwanzig 
alte Volkslieder herausgefunden und abgelöst, die sich von der Arbeit des 
unbekannten Dichters, welcher die letzte Hand an die Anordnung und 
Verschmelzung desselben legte, bedeutend unterscheiden. 
Es ward der handschriftliche Schatz gefunden auf der Burg Ems in 
Graubündten in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damals 
*) Die romanischen Sprachen waren, wie bekannt, in Frankreich, Italien und 
Spanien heimisch.
	        
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