Full text: [Geschichte des Mittelalters] (Theil 2)

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ward das Werk von dem Bearbeiter an Friedrich den Großen gesandt, 
welcher die vielberüchtigte Antwort ertheilte, die sich jetzt unter Glas und 
Rahmen in der Bibliothek zu Zürich befindet: „Ihr habt eine viel zu 
vortheilhafte Meinung von diesen Dingen. Meines Bednnkens sind sie 
nicht einen Schuß Pulver werth und würde ich sie nicht in meiner Bibliothek 
dulden, sondern herausschmeißen." 
Wie haben sich die Zeiten geändert! Jetzt weiß Jedermann, daß 
das Nibelungenlied der erste Edelstein in der Krone deutscher Dichtung ist 
und bei dem Klang der Worte: „Uns ist in alten Mären Wunders viel 
gesagt" (Anfang des Nibelungenliedes), muß sich jedes Deutschen Herz 
erheben, wie einst dem Griechen, wenn der Sänger seine Leier zu den 
homerischen Gesängen stimmte. 
Die Sagenkreise, welche in dem Nibelungenlied benützt sind, wurden 
nichts destoweniger noch in vielen andern Liedern besungen; so lebte das 
Lied vom hörnernen Siegfried in dem Munde des Volkes, von dem 
Kamps des Ritters Ecke mit Dietrich von Bern, vom Zwergkönig Laurin, 
von Herrn Dietrich's Schlacht und Sieg bei Raben u. 'a. m. 
Der Sagenkreis der Nordseeländer besitzt ein in neuerer Zeit wohl- 
bekanntes Gedicht in dem Gudrunliede, welches mit Recht „die 
Nebensonne der Nibelungen" genannt wird. Hier spannt sich die weite 
See aus mit ihren Wogen, Stürmen und Schissen, und die edelste, zarteste 
Schilderung eines reinen Frauencharakters giebt der Dichtung einen 
besonders feinen und lieblichen Reiz. Gudrun, die Tochter des Friesen¬ 
königs Hettel, die geraubt ward von Hartmuth, dem Normannenkönigssohn, 
wird durch ihren Verlobten und ihren Bruder, die Ritter Herwig und 
Ortwin, aus schmählicher Sklaverei befreit. Am Strande des Meeres 
waschen die edlen Frauen, die Königstochter Gudrun und ihre Gespielin 
Hildburg, in eisiger Winterkälte die Gewände der bösen Königin Gerlinde. 
Die Helden kommen auf leichtem Boote über die See; sie landen, aber 
erkennen die Frauen nicht in ihrer armseligen Sklaventracht. 
„Oftmals blickte Herwig die Jungfrau forfcheud an, 
Sie schien so schön dem Degen und auch so wohlgethan, 
Daß es ihn im Herzen oft zum Seufzen brachte; 
Sie glich so sehr der Einen, an die er oft gar minniglich dachte. 
Da sprach von Ortland wieder der König Ortwein: 
„Ich frag' Euch Mädchen beide, sollt' Euch bekannt nicht sein 
Ein fremdes Ingesinde, das kam zu diesem Land? 
Eine war darunter, die war Gudrun genannt." 
Sie sprach: „Ich bin auch Eine, die mit Harmuth's Heer 
Im Streit gefangen wurden und geführet über's Meer. 
Ihr suchet Gudrunen: Das thut Ihr ohne Noth, 
Die Magd von Hegelingen fand vor großem Leid den Tod. 
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