Full text: Der deutsche Kinderfreund

II. Erzählungen 
46 
sich hastig aus, und steckte aus Furcht den Kopf unter das 
Deckbett. Von Zeit zu Zeit zog sie ihn dann scheu hervor, um 
Luft zu schöpfen, und sich ängstlich in der Kammer umzusehen. 
Auf ein Mal glaubte sie an der Kammerthür eine lange weiße 
Gestalt zu erblikken. Voller Schrekkcn zog sie sich das Deck¬ 
bett über den Kopf, und der Angstschweiß lief ihr von der 
Stirn. Lange konnte sie es in dieser Lage nicht aushalten; 
sie wagte es endlich auf einen Augenblick, den Kopf hervor zu 
ziehen, und siehe da, die schreckliche weiße Gestalt stand nicht 
nur immer noch an der Kammerthür, sondern bewegte sich 
auch. Jetzt fing Will elmine laut an zu schreien, und in dem 
Augenblikke trat ihre Mutter in die Kammer. Aber Kind, was 
ist dir denn! rief sie ihr zu: träumst du? oder wachst du? Ach 
Mutter! Mutter ! die weiße Gestalt! Ich glaube gar, du siehst 
Gespenster, erwiderte die Mutter; ermnntre dich, und fasse 
Muth. Was ängstigt dich denn? Es kam nun heraus, daß 
Wilhelmine ein weißes Handtuch, welches an der Kammer¬ 
thür hing, und worauf der Mond schien, für eine weiße Ge¬ 
stalt gehalten hatte. Die Mutter hatte an der Kammerthür 
gehorcht, ob Wilhelmine schliefe, und indem sie die Thür öff¬ 
nete, hatte sich das Handtuch bewegt. Wilhelmine schämte 
sich ihrer kindischen Furchtsamkeit, und sah seit dieser Zeit 
nicht wieder Gespenster. 
19. Die gute Tochter. 
Wilhelm war sehr krank, und seine gute Mutter hatte, 
aus zärtlicher Besorgniß, schon drei Nächte hintereinander 
bei ihm gewacht. Marie, seine zwölfjährige Schwester, fürch¬ 
tete, daß ihre Mutter von den vielen Nachtwachen endlich 
auch krank werden möchte. Daher bat sie ihre Mutter herz¬ 
lich, sie möchte ihr doch erlauben, die vierte Nacht bei dem 
kranken Bruder zu wachen. Aber die zärtliche Mutter wollte 
dies nicht zugeben, theils weil Marie sehr schwächlich war, 
theils weil sie fürchtete, sie möchte einschlafen, und Wilhelm 
dann ganz ohne Hülfe sein. Nun wurde es Abend, und die 
Mutter musste sich doch endlich aufs Bette legen, weil ihr vor 
Mattigkeit die Augen zufielen. Marie hatte sich zwar auch, 
auf Befehl ihrer Mutter, zu Bette gelegt, aber aus Liebe und 
Besorgniß konnte sie nicht einschlafen. Als sie hörte, daß ihre 
Mutter fest schlief, stand sie sacht auf, nahm ihr Strickzeug, 
und setzte sich neben dem Bette ihres kranken Bruders auf die 
Erde. Hier gab sie genau auf ihn Acht, und so bald er sich
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.