Full text: Alte Geschichte (Theil 1)

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Rom. 
sich alle Tage zu den bestimmten Stunden ein, näherten sich der Per¬ 
son ihres Monarchen mit gebeugtem Knie und gefaßten Blicken und 
bezeugten demselben ihre Ehrfurcht mit derselben Ernsthaftigkeit, als ob 
er noch am Leben wäre. Dieses theatralische Schauspiel wurde aus 
Rücksicht der Staatsklngheit einige Zeit fortgesetzt; die Schmeichelei 
konnte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, zu bemerken, daß 
Constantin der Einzige sei, welcher durch die besondere Gnade des 
Himmels noch nach seinem Tode regiert habe. (Gibbon.) 
Die Religionen des Alterthums hatten alle die Nothwendigkeiten 
des Untergangs in sich selbst, theils weil sie dem menschlichen Geiste 
Schranken setzten, die er bei wachsender Kraft in seinem Streben nach 
dem Ewigen durchbrechen mußte, theils weil sie von dem Leben und 
Gedeihen der Völker abhingen, aus deren Eigenthümlichkeit sie cigen- 
thnmlich hervorgegangen waren. Aber die Völker waren gefallen, ver¬ 
nichtet, unterworfen, aufgelöset; alle Gränzen waren durchbrochen; 
alle Eigenthümlichkeit war verwischt, und das Verschiedene war selt¬ 
sam durch einander geworfen. Seit einer Reihe von Jahrhunderten 
hatte das Unglück gedauert; die Erde war mit Blut überschwemmt; 
keine Greuel mochten gedacht werden, welche man nicht erduldet hatte. 
Ein Volk, welches kein Volk war, hatte endlich Alles unterworfen 
mit List, mit Gewalt und herrschte ohne Schonung und Menschlich¬ 
keit. Umsonst hatte man zu den Göttern gefleht, vergebens hatte man 
die gewohnten Opfer auf die alten Altäre gelegt; auch die Orakel 
waren verstummt, und ihre geheimnißvollen Sprüche ohne Erfüllung 
geblieben. Ein Geschlecht war nach dem andern abgestorben; das 
allgemeine Elend war gewachsen, und hoffnungslos sahen die Edleren 
in daö Leben, dessen Nichtigkeit gemeinere Naturen in sinnlichen Ge¬ 
nüssen zu vergessen suchten. Aber der menschliche Geist drängte unauf¬ 
haltsam nach dem Unendlichen hinauf, ans welchem er ist. Die 
Tempel standen leer, die Altäre versanken, und Witzlinge verspotteten 
den abgelebten Glauben: aber die Sehnsucht des Herzens blieb un- 
gemindert. Die Grundsätze der Stoa vermochten weder daö Leben zu 
bessern, noch über das Leben zu erheben; sie konnten nur abstnmpfen 
gegen die Leiden und den Wechsel desselben, und eben deswegen waren
	        
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