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12. In der Kinderstube.
Die Grundlage aller Erziehung sollte Einfachheit sein. Wenn wir
das Kind zur Einfachheit erziehen wollen, so müssen wir es an möglichst
wenig Bedürfnisse gewöhnen. Wir erweisen ihm dadurch eine unschützbare
Wohlthat. Dem Kinde, welchem der Luxus in der Kleidung, in Speisen,
welchem das Übermaß in Freude fremd ist, dem bleiben auch Eitelkeit, Stolz,
Naschsucht, Genußsucht, Unbescheidenheit, Habsucht, Neid, Mißgunst fremd,
dem blühen unzählige Freuden mehr, als dem mit Genüssen aller Art über¬
sättigten Kinde; es ist glücklich in seinem bescheidenen Kleidchen, es ist froh
bei seinem einfachen Mahl; das Unbedeutendste kann ihm Freude machen;
Enthaltsamkeit, Bescheidenheit, Selbstbeherrschung und haushälterischer Sinn —
welch' schöne Früchte der Erziehung zur Einfachheit! Sie macht die Kinder
reich; mit ihrer Genügsamkeit tragen sie eine Quelle zur Wohlfahrt, zum
Wohlstand in sich. Sie sind bei wenigem glücklich; sie werden das bleiben,
wenn das Schicksal sie auf dem gewöhnlichen Wege des Mittelstandes läßt;
bietet es ihnen einst mehr, so werden sie in der besseren Lage nicht über¬
mütig werden. Ihre Genügsamkeit schließt die häßliche Selbstsucht aus und
macht ihnen die Selbstverleugnung leichter.
Wo die kindliche Einbildungskraft in ihrer Reinheit erhalten, wo un¬
nützes Geschwätz in Gegenwart des Kindes vermieden wird, da bleibt sein
Geplauder kindlich rein und wahr. Was könnte nun das Kind zur Un¬
wahrheit, zur Verstellung, Täuschung und Lüge verleiten? — Eine unzweck¬
mäßige Behandlungsweise, ein naturwidriges und ungerechtes Strafen, wo
nur es bloß belehren sollten; denn oft lügt ein Kind in der Übereilung oder
aus Leichtsinn oder aus Furcht vor harter Strafe. Wir trüben durch
ungerechtfertigte Strafen die kindliche Natur; wir ersticken das Vertrauen in
ihr. Seines Unrechtes bewußt, verbirgt sich das Kind vor dem forschenden
Auge der Mutter, sucht es, der strafenden Hand des Vaters zu entgehen;
statt ein freies Geständnis abzulegen, nimmt es seine Zuflucht zur Verstellung.
Hast du es im Verdacht, daß es gelogen habe, so scheue die Mühe nicht,
dich zu vergewissern, ob du nicht irrst; denn du darfst die Unwahrheit nicht
ungerügt lassen, da die Lüge den Charakter durch und durch verdirbt. Aber
nur eine weise und liebevolle Behandlung vermag das Kind zur Aufrichtigkeit,
zur Scham, zur Reue über seine Fehler, zur Besserung zu bringen. Wir
suchen sein Gewissen durch ein Bekenntnis zu entlasten. Vor allem sei Kindern
gegenüber selbst immer der Wahrheit treu und dulde an ihnen weder Klatsch¬
sucht, noch Zwischenträgereien und Neuigkeitskrämerei, da ihnen all dies die
Versuchung zum Lügen nahelegt! Belächle nie die Schlauheit eines gescheiten
Kindes, mit der es einen Fehler oder ein Unrecht zu bemänteln sucht! Nimm
es mit der Wahrheit stets streng und genau und lehre das Kind, dieselbe
heilig halten! So erziehst du es zur wahren Menschenwürde.
Obwohl in der Erziehung auf Gehorsam gedrungen und der Eigensinn
gebrochen werden muß, so ist es doch notwendig, das Kind in gewisser Be¬
ziehung zur Selbständigkeit zu erziehen. So ist es z. B. ein wesentlicher
Nutzen für das heranreifende Kind, wenn wir ihm neben einer Sparbüchse
oder noch besser einem Sparkassenbüchlein ein kleines Taschengeld geben und