144 Sechster Zeitraum.
um alle Einseitigleit zu vermeiden, trieb er auch das Stu—⸗
dium der Geschichte, der Naturwissenschaften und besonders
der Weltweisheit. Er prüfte die Meinungen der alten Phi—
losophen, lachte heimlich über die Götter, und war vom Da—
sein des wahren Gottes eben so gut überzeugt, wie ehemals
Sokrates. Dabei las und schrieb er unaufhoͤrlich, disputirte
mit seinen Freunden, hielt Redeübungen, machte Aus—
züge u. s. w., und wurde so mündlich und schriftlich ge—
wandt. Was geschieht wohl bei uns zur Erreichung dieser
herrlichen Zwecke? Und was ist unsere Strafe dafür ? Daß
wir unbehülflich und verworren denken, langsam schreiben,
und so wenig zu sprechen wissen, daß wir zu anderweitigen
Beschäftigungen greifen müssen, um in Gesellschaften nicht
vor langer Weile einzuschlafen. Reden und Abhandlungen,
wie man · sie jetzt nicht mehr lieset, hielten die römischen
Redner ohne alle schriftliche Vorbereitung aus dem Stegreife,
und oft alle Tage. Gerichtliche Händel, die jetzt jahrelang
währen, Tausende kosten, und Ballen Papier erfordern, wur—
den zu Rom in einem Vormittag abgemacht.
Theils um seine schwache Gesundheit zu stärken, theils
seine Bildung zu vollenden, machte Cicero in seinem 28
Jahre eine Reise nach Griechenland. Hier besah er die Merl⸗
würdigkeiten der berühmtesten Städte, besuchte die besten
Redner und Philosophen, hielt sich 6 Monate in Athen auf,
wo er mit seinem Freunde Atticus im Hause eines Ala—
demikers lebte, und übte sich täglich mit den gewandtesten
griechischen Lehrern in philosophischen Disputationen und
und freien Reben, wobei er das Griechische so fertig sprach,
daß man ihm den Ausländer gar nicht anmerkte. Als Sulla
starb, ging Cicero nach Asien. Auf die Nachricht von seiner
Ankunft versammelten sich die berühmtesten Redner um ihn,
und verließen ihn mit staunender Hochachtung. In Rho—
dus erlebte er den höchsten Triumph seiner Kunst. Hier
wohnte einer der größten Lehrer der Beredsamkeit, Namens
Molon. Cicero bat um die Erlaubniß, seine Schule zu be—
suchen. Als er eingetreten war, gab ihm der Lehrer ein
Thema zu einer freien Rede. Sogleich fing Cicero an zu
sprechen, und führte den aufgegebenen Gegenstand mit einer
solchen Fülle der Gedanken, mit einer so seltenen Anmuth