Stoll: Der trojanische Krieg.
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sie sehnten sich schon lange aus dem finstern Versteck nach Kampf und
Streit. Odysseus aber mahnte sie zur Vorsicht und stieg zuerst mit
Epgus aus der leise geöffneten Türe, gleich einem hungrigen Wolfe,
der in der Nacht blutgierig zur Herde schleicht. Die übrigen Helden
folgten und ergossen sich nun durch die Straßen und in die Häuser der
Stadt. Sie begannen ein furchtbares Morden unter den schlaftrunkenen,
weinberauschten Troern, warfen Feuerbrände in die Häuser, daß bald
hier und dort die lichten Flammen zum Himmel schlugen. Unterdessen
trieb auch die Flotte unter günstigem Winde ans Ufer, und das ganze
Heer eilte blut- und beutegierig durch die Mauerlücke, die ihnen
einen breiten Eingang in die schon mit Trümmern und Leichen be¬
deckten Straßen bot. Jetzt erst begann das Getümmel der Verwüstung
in furchtbarster Weise.
Aber auch für die Achäer war der Kampf nicht unblutig. In der
Verzweiflung wehrten sich die Troer mit allem, was ihnen zur Hand
war. Die einen schleuderten Becher, Tische oder vom Herde gerissene
Feuerbrände gegen die Angreifenden; andere waffneten sich mit Äxten
und Veilen, mit Lanzen und Schwertern und fochten in den Straßen,
viele auch warfen Steine und Balken von den Dächern. Die Flammen
der brennenden Häuser, sowie die Fackeln, welche die Kämpfenden an¬
gezündet hatten, um den Freund von dem Feinde zu unterscheiden, er¬
hellten allmählich die ganze Stadt, daß der Kampf sicherer ward, der
Freund sich zum Freunde gesellen und aus der Schar der Feinde sich
seinen Gegner wählen konnte.
2.
Nachdem in den Straßen das Morden lange entsetzlich gewütet
hatte, zog sich der ganze Kampf aus den übrigen Teilen der Stadt
allmählich zu der Burg, zu dem Palaste des Königs Priamus. Hier
entstand ein solches Getümmel und Schlachtgewühl, als wäre der
Kampf in der übrigen Stadt nur ein Spiel. Mit wildem Kriegsmut
stürmen die Danaer gegen die umtürmten Pforten des Palastes; den
Schild über dem Haupte, dringen sie dichtgedrängt die Stufen hinauf
gegen das feste Tor und klettern auf Leitern an den Wänden der
Türme empor. Die Belagerten wehren sich mit dem Mut der Ver¬
zweiflung im letzten Todeskampfe, sie reißen ganze Türme und Dächer
los und stürzen sie auf die Häupter der anstürmenden Griechen, während
andere drunten in dichtgedrängter Schar mit gezogenem Schwert den
Eingang verteidigen. Gerade über der Pforte ragte ein hoher Turm,
der höchste der ganzen Burg, von dem aus man ganz Troja über¬
blicken und weithin schauen konnte bis zu den Schiffen der Danaer.
Dessen oberstes Stockwerk suchen die belagerten Trojaner abzulösen und
auf die Feinde hinabzustürzen. Lange mühen sie sich vergebens, da