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III. Sagen.
Er warf den Speer mit gewaltigem Schwünge und verfehlte sein
Ziel nicht; denn mit lautem Krachen fuhr die eiserne Spitze gegen die
Buckel des Schildes und hätte Schild und Brust durchbohrt, wäre nicht
der Schild aus Hephästos' 10) Schmiede gewesen. Aber so prallte die
Lanze zurück wie ein Ball, der gegen die Wand geworfen wird, und Hektor
stand erschrocken da; denn er hatte nur die eine Lanze gehabt. . Geschwind
sah er sich nach Deiphobus um und forderte laut einen andern Spieß, aber
niemand antwortete ihm, und der Bruder war nirgends zu sehen. Da
ahnte er im Geiste sein Unglück. „Wehe mir!" rief er, „ein tückischer
Gott in Deiphobus' Gestalt hat mich vorher getäuscht, und jetzt, da ich
hoffte, er solle mich retten, ist er verschwunden!"
In der letzten Verzweiflung ergriff er sein Schwert, entschlossen, alö
Held zu kämpfen. Aber Achill hatte schon Hektors Lanze aufgehoben, und
als sie gegen einander rannten, erreichte der lange Speer natürlich leichter
sein Ziel als das kurze Schwert. Über dem Panzer in den Hals getroffen,
sank Trojas Hortn), und sein grausamer Sieger und alle Achäer froh¬
lockten.
„Ha!" ries Achill, indem er den Speer auszog, „so stolz triumphier¬
test du noch gestern, als du in Patroklus' geraubtem Harnisch gegen unsere
Mauer drängtest, und heute liegst du so kraftlos vor der euren! Wahrlich !
du dachtest wohl nicht, daß dem Erschlagenen noch ein stärkerer12) Rächer
bei den Schiffen verblieb ? Doch ihn bestatten wir mit Ehren, wie es einem
Helden gebührt, indes dich die Hunde und Geier verzehren!"
„O!" stöhnte der schweratmende Hektor ihm zu, „ich bitte dich bei
deinem Leben, ich beschwöre dich bei deinen Eltern, laß doch nur nicht bei
den Schiffen die Hunde mein Fleisch fressen, sondern nimm die Lösege¬
schenke, die mein Vater und meine Mutter dir reichlich darbieten werden,
und gib mich den Meinigen zurück, damit Troer und Troerinnen daheim
mir die letzte Ehre erweisen und auf dem Scheiterhaufen meine Gebeine
verbrennen."
Aber mit fürchterlicher Stimme schrie Achill ihn an: „Schweig und
stirb, du Hund! Glaubst du, ich werde auf deine Bitten hören? Ha! ich
wollte, mich erbitterten Zorn und Wut so sehr, daß ich selbst dein rohes
Fleisch verschlingen könnte, denn du hast es an mir verdient 13)! Und keiner
soll sich unterstehen, die Hunde von deinem Leibe zu verscheuchen! Mögen
die Troer auch zwanzigfältige Sühnung bieten, ja wollte Priamus dich mit
Gold aufwiegen, dennoch soll die Mutter dich nicht in weiche Gewänder
hüllen und dich unter Wehklagen bestatten, sondern Hunden und Vögeln
des Feldes will ich dich zum Fraße geben!"
„Ach, das dachte ich wohl!" wimmerte der sterbende Hektor, „denn
ich kenne dich ja, du bist nicht zu erweichen und hast ein eisernes Herz.
Aber bedenke, daß diese Härte dir-noch den Zorn der Götter erwecken kann.
Es wird ein Tag der Vergeltung über dich kommen!"
Das waren Hektors letzte Worte. Mit ihnen hauchte er seine Seele
aus. Achilles achtete der Drohung so wenig als der Bitte, sondern er
übte an dem Toten die schimpflichste Behandlung, die seine Rachsucht ihm