Full text: Lesebuch für Mittel- und Oberklassen gehobener Mädchenschulen

92 
alter Soldatenmantel war sein Kleid. Gar manche Schlacht 
hatte der Invalide mitgekämpft und fast jede ihm einen 
Denkzettel angehängt, bei dem für das Verlieren keine 
Sorge nöthig war. Nur drei Finger an der rechten Hand 
hielten den Bogen. Eine Kartätschenkngel hatte die zwei 
andern bei Aspern mitgenommen, und fast zu gleicher 
Zeit eine größere Kugel ihm das Bein weggerissen. Und 
doch sahen heute die fröhlichen Leute nicht auf ihn, und 
er hatte gar für den letzten Kreuzer Saiten auf seine 
Violine gekauft und spielte mit aller Kraft seine gewöhn¬ 
lichen Märsche unb Tänze. Traurig sah der alte Mann 
ans die wogende Menschenmasse, ans die fröhlichen Ge¬ 
sichter, aus die stolze Pracht ihres Putzes. Bei ihrem 
Lachen drang ein Stachel in seine Seele; — heute Abend 
mußte er hungern auf seinem Strohlager im Dachstübchen. 
Sein Pudel war in der That besser dran; er fand doch 
vielleicht auf dem Heimwege einen Knochen unter einem 
Rinnsteine, an dem er seinen Hunger stillen konnte. 
Schon war's ziemlich spät am Nachmittage. Die Hoff¬ 
nung des geigenden Invaliden war so nahe am Unter¬ 
gänge wie die Sonne; denn schon kehrten die Lustwandler 
zurück. Als endlich Alles fruchtlos blieb und die müde 
Hand den Bogen nicht mehr führen konnte, auch sein 
Bein ihn kaum mehr trug, setzte er sich auf einen Stein, 
stützte die Stirn in die Hand, und die Erde trank einige 
heimliche Thränen, und die sagt's nicht weiter. 
Ein stattlich gekleideter Herr aber, der dort in der 
Nähe am Stamm- einer alten Linde lehnte, hatte den un¬ 
glücklichen Musikanten, ohne von diesem bemerkt zu wer¬ 
den, schon eine Zeitlang mit tiefempfundenem Mitleid 
betrachtet, auch zuletzt gesehen, wie die verstümmelte Hand 
die Thränen abwischte, damit das Auge der Welt die 
Spuren nicht sähe. Da war's diesem Herrn, als wenn 
die Thränen des Alten wie siedend heiße Tropfen auf 
sein Herz gefallen wären, und er trat rasch hinzu, reichte 
ihm ein Goldstück und sagte: „Leihet mir Eure Violine 
ein Stündchen!" Der Invalide sah voll Dankes den Herrn 
an, der mit der deutschen Sprache so holperig umging, 
wie er mit der Geige. Was er aber wollte, verstand der 
Alte bo 1) und reichte ihm seine Violine. Die war nun 
so schlecht nicht; nur der gewöhnliche Geiger kratzte so 
übel. Der Herr stimmte sie glockenrein, stellte sich dar-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.