Mügge: Der Heringsfang an der Küste von Norwegen. 211
mählich zunimmt und bald den ganzen Horizont überzieht; die Land¬
zeichen oder die Sterne, die dem Reisenden seither als Wegweiser
dienten, verschwinden jetzt auf einmal, und gewöhnlich folgt auf den
Nebel auch noch dichtes Schneegestöber. Ist eine Reisegesellschaft von
mehreren Personen beisammen, so würden sie ohne das Klingeln der
Glöckchen, die an verschiedenen Teilen des Geschirrs angebracht sind,
einander schnell verlieren. Muß die Reise durch dichte Nebel oder
Schneegestöber fortgesetzt werden, so geschieht es nur mit bedeutender
Gefahr; denn in diesem Wetter ist auch der Erfahrenste des Weges
nicht mehr kundig. Aus so bedenklicher Lage rettet die Bedrohten oft
nur der instinktmäßige Scharfsinn des Tieres, das plötzlich anhält,
ehe es noch den Rand der Kluft erreicht, selbst wenn es diesen allem
Anschein nach im Dunkel gar nicht sehen kann. Erlaubt das Wetter
durchaus keine Fortsetzung der Reise, so hüllt sich der Lappe in seinen
Überrock aus Nenntierhaut, streckt sich in den Schnee nieder und
wartet geduldig auf günstigeres Wetter. Die Schnelligkeit des Renn¬
tieres ist eine ungewöhnliche, indem es in einer Stunde mit Leichtig¬
keit zwei deutsche Meilen zurücklegt; allein es ist nötig, daß man es
spätestens in der dritten Stunde ablöst, damit es nicht buglahm werde,
in welchem Zustande es ganz entmutigt auf den Boden sich ausstreckt,
nicht wieder auf die Beine zu bringen ist und geschlachtet werden muß.
Im Herbste, wenn die Tiere fett sind, schlachtet der Lappe von
den älteren der Herde, was er missen kann. Das Renntier ist aus¬
gewachsen so groß wie ein starker Hirsch- Braten und Keule schmecken
ähnlich wie Hirschbraten, das Fleisch ist aber weicher und saftiger. Die
Keulen werden auch geräuchert und als Renntierschinken weit versandt.
129. Der Heringsfang an der Küste von Norwegen.
Von Theodor Mügge. Reise durch Skandinavien. Hannover, 1844.
Kaum giebt es ein wunderbareres Geschöpf als den Hering, dessen
Geschichte in den tiefsten Tiefen des großen Salzwassers noch gar nicht
so genau erforscht ist, als man meinen mag. Unter allen den kalt¬
blütigen Geschlechtern in beschuppter Haut ist das seine wahrscheinlich
das zahlreichste; denn wer zählt die ungeheuern Schwärme, welche jähr¬
lich aus den Meerestiefen aufsteigen, an allen Küsten des nördlichen
Europas erscheinen, zu Milliarden gefangen werden, zu Milliarden,
eine Beute der Raubfische, erliegen und doch immer wieder in der
gleichen zahllosen Fülle zum Vorschein kommen! Der Hering erscheint
und verschwindet mit bewunderungswürdiger Regelmäßigkeit. Lebt er
eine Zeit lang in dem fernen Polarmeere, hat er dort in Tiefen, wohin
kein Senkblei reicht, seinen geheimen Staat gegründet, und zieht er von
dort wie die Reitervölker der Steppen jährlich aus, um die Meere zu
durchschwärmen? Man kann sich solchen Träumen hingeben, wenn
man von den Heringskönigen hört, welche die Schwärme anführen und
in ihren silberglänzenden Rüstungen ihnen voraufziehen. Die Herings¬
könige sind Sensenfische, welche zehn Fuß lang werden und häufig als
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