Full text: [Bd. 2, [Schülerband]] (Bd. 2, [Schülerband])

140 
heimlich zu Mut; denn hierneben hat es ganz vernehmlich geseufzt 
und gestöhnt." 
8. Der Kalif blieb nun auch stehen und hörte ganz deutlich 
ein leises Weinen, das eher einem Menschen als einem Tiere anzu- 
205 gehören schien. Voll Erwartung wollte er der Gegend zugehen, 
woher die Klagetöne kamen; der Wesir aber packte ihn mit dem 
Schnabel am Flügel und bat ihn flehentlich, sich nicht in neue, un¬ 
bekannte Gefahren zu stürzen. Doch vergebens! Der Kalif, dem 
auch unter dem Storchenflügel ein tapferes Herz fchlug, riß sich 
210 mit Verlust einiger Federn los und eilte in einen finstern Gang. 
9. Bald war er an einer Türe angelangt, die nur angelehnt 
schien, und woraus er deutliche Seufzer mit ein wenig Geheul 
vernahm. Er stieß mit dem Schnabel die Türe auf, blieb aber 
überrascht auf der Schwelle stehen. In dem verfallenen Gemach, 
215 das nur durch ein kleines Gitterfenster spärlich erleuchtet war, sah 
er eine große Nachteule am Boden sitzen. Dicke Tränen rollten 
ihr aus den großen, runden Augen, und mit heiserer Stimme stieß 
sie ihre Klagen aus dem krummen Schnabel heraus. Als sie aber 
den Kalifen und seinen Wesir, der indes auch herbeigeschlichen war, 
220 erblickte, erhob sie ein lautes Freudengeschrei. Zierlich wischte sie 
mit dem braungefleckten Flügel die Tränen aus dem Auge, und 
zu dem größten Erstaunen der beiden rief sie in gutem, menschlichem 
Arabisch: „Willkommen, ihr Störche, ihr seid mir ein gutes Zeichen 
meiner Errettung; denn durch Störche werde mir ein großes Glück 
225 kommen, ist mir einst prophezeit worden." 
10. Als sich der Kalif von seinem Erstaunen erholt hatte, 
bückte er sich mit seinem langen Hals, brachte seine dünnen Füße 
in eine zierliche Stellung und sprach: „Nachteule, deinen Worten nach 
darf ich glauben, eine Leidensgefährtin in dir zu sehen. Aber ach! 
230 deine Hoffnung, daß durch uns deine Rettung kommen werde, ist 
vergeblich. Du wirst unsere Hilflosigkeit selbst erkennen, wenn du 
unsere Geschichte hörst." Die Nachteule bat ihn zu erzählen, der 
Kalif aber hub an und erzählte, was wir bereits wissen. 
IV. 
1. Als der Kalif der Eule seine Geschichte vorgetragen hatte, 
235 dankte sie ihm und sagte: „Vernimm auch meine Geschichte und 
höre, wie ich nicht weniger unglücklich bin als du. Mein Vater 
ist der König von Indien; ich, seine einzige, unglückliche Tochter,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.