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Unter dem Jubel des Volkes wurde das erlegte Tier nach Kalydon
geschleppt. Artemis aber erregte bei der Teilung der Beute einen Streit
zwischen Meleager, der das Haupt des Ebers sür sich verlangte, und den
beiden Brüdern seiner Mutter. Keiner wollte nachgeben; da erhob Meleager
im Zorne das Schwert und erschlug seine Oheime. Laut tönte die Mordklage
zu den Ohren der Königin Althäa. Als sie erfuhr, wer der Thäter sei, ging
sie hin, holte das versteckte Scheit hervor und schleuderte es in die Glut
des Herdes. Das dürre Holz fing Feuer, und ebenso schnell, wie es ver¬
brannte, fühlte Meleager seine eigene Kraft abnehmen und sinken. Zu spät
sah die unglückliche Mutter, was sie angerichtet hatte: wie das letzte Stück
des Scheites in Asche zerfiel, hauchte Meleager sein Leben aus.
^30. Der Sänger Orpheus. X~"
Es war einmal ein Sänger Namens Orpheus, der konnte gar lieblich
singen und die Harfe dazu schlagen; und wenn er sang, so waren nicht nur
die Menschen, die ihn hörten, wie bezaubert, sondern auch die Vögel in den
Lüften, die Fische im Wasser und die Tiere des Waldes kamen herbei, um
zu lauschen. Orpheus hatte sich mit einem holdseligen Mägdlein vermählt,
des Name war Eurydike. Die beiden hatten sich von Herzen lieb, aber ihr
Glück war von kurzer Dauer. Eines Tages wandelte die junge Frau mit
ihren Freundinnen aus einer blumenreichen Wiese und ahnte nichts Böses.
Da trat sie unversehens aus eine Schlange, die im Grase versteckt lag,
und das Tier biß sie in die Ferse. Sterbend ward Eurydike ihrem Gemahl
ins Haus getragen und verschied in seinen Armen. Für Orpheus war nun
alle Freude des Lebens zu Ende; unaufhörlich weinte und klagte er über
die verlorene Gattin. Endlich konnte er die Sehnsucht nach seiner Eurydike
nicht länger ertragen und entschloß sich zu einem Wagestück, das noch kein
Mensch versucht hatte. Er wollte in die Unterwelt hinabsteigen und den Gott
Pluton so lange mit Bitten und Liedern bestürmen, bis er ihm die Geliebte
zurückgäbe. Festen Schrittes drang er durch alle Schrecknisse der Unterwelt
bis dahin, wo der finstere Pluton neben seiner wunderschönen Gemahlin
Persephone aus blutrotem Throne saß. Orpheus trat ehrfürchtig vor das
Königspaar und sang zum Klange seiner Harfe ein Klagelied. Und siehe!
die bleichen Schatten der Gestorbenen kamen während des Gesanges leise
herbeigeschwebt und vergossen Thränen. Persephone aber sprach zu dem
Sänger: „Wunderbarer Mann, dein Lied bezwingt den Tod. Deine Gattin
soll dir folgen und mit dir ans Licht des Tages zurückkehren, aber merke dir
eins: schaue dich aus dem Wege nicht nach ihr um, sonst verlierst du sie auf
ewig I" Aus den WüU der Königin kam eine bleiche, zarte Gestalt herange-