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Lesestücke für Seminar und Haus.
sind Gleichgewicht und Ungleichgewicht der Massenverteilung für uns
Verhältnisse, die wir mit dem Anteile des Mitgefühls beobachten. Und
jetzt, nachdem tausende dieser kleinen Empfindungen uns den Umriß unseres
Körpers und die Formen unserer Glieder kennen gelehrt und uns angedeutet
haben, welche zarte Reizkraft und geduldige Stärke, welche lieblicheHinfälligkeit
oder Festigkeit in jedem einzelnen Teile dieser Umrisse schlummert, jetzt
wissen wir auch die fremde Gestalt zu verstehen. Und nicht nur in die
Lebensgefühle dessen dringen wir ein, was an Art und Wesen uns nahe
steht, in den fröhlichen Flug des Vogels oder die zierliche Beweglichkeit
der Gazelle) wir ziehen nicht nur die Fühlfäden unseres Geistes auf das
kleinste zusammen, um das eugbegrenzte Dasein eines Muscheltieres
mitzuträumen und den einförmigen Genuß seiner Öffnungen und
Schließungen) wir dehnen uns nicht nur mitschwcllend in die schlanken Formen
des Baumes aus, dessen feine Zweige die Lust anmutigen Beugens und
Schwebens beseelt) mit einer ahnungsvollen Kraft der Deutung vielmehr,
die alle bestimmte Erinnerung au unsere eigene Gestaltung entbehren
kann, vermögen wir selbst die fremdesten Formen einer Kurve, eines regel-
niüßigen Vielecks, irgend einer symmetrischen Verteilung von Punkten als
eine Art der Organisation oder als einen Schauplatz aufzufassen, worin
mit namenlosen Kräften sich hin- und herzubewegen uns als ein nach¬
fühlbares charakteristisches Glück erscheint."
(Lvtze, Geschichte der Ästhetik in Deutschland, S. 89 f.)
39. Tie Art, wie sich die Erscheinung aufbaut, wird zu einer Analogie meines
eigenen Aufbaus) ich hülle mich in die Grenzen derselben, wie in ein
Kleid. — Die Formen scheinen sich zu bewegen, während nur wir in
der Vorstellung uns beivegcn — Wir klettern empor an dieser Tanne,
wir recken uns in ihr selbst empor) mir stürzen in diesen Abgrund.
(Robert Fischer, Über das optische Formgefühl, S. 15.)
40. Nur durch das Zusammenklingen des im Objekte sich darstellende Mensch¬
lichen mit dem Menschlichen in des Betrachters Gemüte entspringt das
Schöne.
(Johannes Dolkelt, Symbol-Begriff, S. 24.)
i. Diese schöne und beseelte Erscheinungswelt stellt sich dem frommen
Auge als den Abglanz Gottes dar. Ter Zug zum Schönen ist eine Heimats¬
sehnsucht und Heimatsgewißheit der zu Gott sich neigenden Seele. Im Schönen
tritt eine höhere Welt in die unsere ein.
41. Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
(Goethe, Faust, II., Akt I.)
42. Mein Geschlecht,
Bestimmt Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht!
(Goethe, Pandora, Vers 958—959.)