140
22
9
2
3. Und an der Glocke Strange
Wiegt mächtig seine Hand
Daß sie mit hellem Klange
Hinausruft in das Land:
4. „Der Tag inun geschieden,
Ertragen Leid und Lust.
Nun ziehe Himmelsfrieden
In jedes Menschen Brust.
5. Es ruh' das Kind vom Spiele,
Es ruh' der Mann vom Streit,
Der Wanderer am Ziele
Nach langer Pilgerzeit.
6. Und wer vor Gram und Kummer
Kann ruhn und rasten kaum:
Den wieg' ein sanfter Schlummer
In sel'ger Tage Traum.
7. Und wem sein müdes Auge
Geschlossen hat der Tod,
Mit ew'gem Lebenshauche
Küss' ihn das Morgenrot.“
8. So hallet in die Ferne
Der Glocke heil'ges Lied. —
Am Himmel stehn die Sterne,
Im al der Nebel zieht.
Friedrich Güll.
163. Der Stier und die Giraffe.
Ein junger Stier und eine Giraffe, die sich beide vor einem
mächtigen Löwen geflüchtet hatten, begegneten sich auf ihrem Wege,
und da sie beide einerlei Schicksal hatten, beschlossen sie, miteinander
zu wandern. „Ich mag,“ so sprach die Giraffe, „nicht mehr in der
Heimat bleiben, wo man keinen Tag und keine Nacht vor dem An—
griffe der Feinde sicher ist; ich will in ein Land ziehen, wo man
wenigstens ruhig schlafen kann und nicht immer von dem Gebrüll der
vielen Löwen aufgeschreckt wird.“ „Und ich,“ so sprach der Stier,
„gehe gerne mit dir in ein solches friedliches Land. Daheim habe ich
mich kaum mehr vor den Löwen zu retten gewußt, die mir schon alle
meine Brüder zerrissen haben und mich selber, erst gestern, fast schon
unter ihren Klauen hatten.“