266. Die Völkerstämme in Sibirien.
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sind noch eben so roh und unwissend, als zur Zeit, wo die Kosaken ihre
erste Bekanntschaft machten. Zwar sucht die russische Regierung die Roma-
den längs den Ufern der großen, fischreichen Flüsse anzusiedeln und versieht
sie mit den zur Fischerei erforderlichen Gerätschaften. Doch nur die äußerste
Noth vermag den Tungusen zu bestimmen, dem freien Waldleben zu ent-
sagen: denn er ist Nomade mit Lust und Leidenschaft und behauptet, es gäbe
keinen größern Fluch, als stets auf demselben Fleck, wie ein Nüsse oder ein
Jaknt, zu leben. Durch seine Sorglosigkeit und Heiterkeit, sein schnelles,
flinkes Wesen, seine Gewandtheit und Anmuth, seinen liebenswürdigen Witz
und frohsinnigen Humor zeichnet er sich vortheilhast vor den andern sibiri-
schen Stämmen, dem sinstern Samojeden, dem schwerfälligen Ostjaken, dem
sauertöpfischen Jakuten aus, und wird daher auch „der Franzose der Tundra
und des Fichtenwaldes" genannt. Seine Kleidung stimmt zu seiner Beweg-
lichkeit und trägt zugleich seine Eitelkeit zur Schau. Er hüllt sich nicht in
schwerfällige Rennthierpelze ein, sondern trägt einen schmal zugeschnittenen
Frack aus Rennthierfell, gewöhnlich mit Glasperlen, Tuchstreifen, Pferdehaa-
ren reichlich ausgeschmückt und so eng, daß er nur mit Mühe zugeknöpft
werdeu kann, denn die tungusische Mode erheischt, daß die Brust offen stehe,
um die perlenverzierte Brustbedeckung zu zeigen. Auf dem Kopfe trägt er
eine kleine tatarische Mütze, von lauter Perlen flimmernd. Die kurzen
Kniehosen wie auch die Schuhe sind ebenfalls mit Perlstreifen versehen. Ueber
der Schulter hängt ein Perlengehänge mit Beutel für Feuerzeug. Reitet
der Tunguse auf dem Rennthiere durch den Wald (er sitzt so stolz darauf,
daß beide Theile wie für einander geschaffen scheinen) oder jagt er dem Wilde
durch die Moräste nach, so legt er natürlich Manches von seinem Schmuck
bei Seite und zieht seine langen, wasserdichten Stiefel an, die mit warmem Fisch-
fett getränkt werden, welches zu diesem Zweck in den Mund genommen und
fein vertheilt zwischen den Zähnen über das Leder gesprudelt wird. Zur
Jagd gebraucht der häßliche kleine Mann, mit der hervorstehenden Kinnlade
und den tätowirten bogenförmigen Verzierungen im gelben Gesichte, vor Allem
ein Paar Schneeschuhe, kahnsörmig gestaltet und mit aufwärts gekrümmten
Spitzen. Mit ihrer Hülse fliegt er pfeilschnell über die blendend weiße Fläche
dahin, während die wilden Thiere mit gespaltenen Husen in den tiefen Schnee
einsinken. Er schützt, wie der Jakute, sein Auge durch ein zierlich geflochtenes
und engmaschiges Netz aus schwarzen Pferdehaaren gegen den verderblichen
Widerschein. Die Gefahren, mit denen die Jagd verknüpft ist, auch wohl
die öftere Erfolglosigkeit derselben veranlassen den Tungusen auch zuweilen
zum Fischfang, der mit viel größerer Sicherheit zu ihrem Lebensunterhalt
beiträgt. Einen weitern Gegenstand ihres Unterhalts bildet der Fang wil-
der Wasservögel, die sich in diesen Einöden an Seen und Flüssen in großer
Menge einfinden. Wie bei den Ostjaken und Samojeden wird auch bei den
Tungusen das Weib als eine Waare betrachtet. Der Vater gibt seine Toch-