Der Baumstamm — ein Stammbaum. 
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99. Der Baumstamm — ein Stammbaum. 
Geh' ich an einer Schneidemühle vorüber, wo die kräftigen 
Säulen des Waldes aufgeschichtet sind, so kann ich gar nicht anders: 
ich muß die unteren Abschnittsflächen einiger Stämme ansehen, um 
auͤf ihnen die Geschichte der Gefällten zu lesen. Der Baum ist ja keine 
einzelne Pflanze, wie ein Hund ein einzelnes Tier ist. Er ist ein 
hundertjähriger Staat, der zum Fallen kam. Darum ist mir sein 
Baumstamm immer sein Stammbaum. 
Das ist er freilich nur dann, wenn ich die geheimnisvollen 
Ringe seiner Abschnittsfläche zu deuten verstehe. Seht, hier liegt 
ein schlanker Fichtenstamm! Auf dem Abschnitte von beträcht⸗ 
lichem Durchmesser zählt er nur 40 Jahresringe. Einer ist so breit 
wie der andere. Jeder bildet um die übrigen einen schönen, regel⸗ 
mäßigen Reif. Du hast 40 behagliche Jahre durchlebt, du schlanker 
Slamm, an Jahren fast noch ein Baumjüngling. Du standest im 
Kreise zahlreicher Genossen, und eure Wipfeläste verschränkten sich 
zum schattenden Dache. Dein Leben war geschirmt vor der Wucht 
des Slurmes. Die häßlichen Borkenkäfer zehrten nicht an deinem 
Lebensmarke. Deiner Wurzel fehlte nie das erquideende Naß. Das 
alles sagen mir die breiten, gleichen Jahresringe deines Innern. 
Auch einsam standest du nicht, sondern im dichten Schluß — wie 
der Förster sagt — mit deinen Brüdern! Das sehe ich aus der Glätte 
und Astlosigkeit deines Schaftes, der nur oben einen kurzen Kronen⸗ 
wipfel quirlförmiger Aste hat. 
Jetzt komme ich zu dir, du alter Knabe aus dem Geschlechte 
der langnadeligen Kiefern. Du hast ein bewegteres Leben geführt. 
Ich zähle über 200 Jahre. Darunter sind Jahre des Hungers und 
Jahre des üppigsten Genusses. Ich sehe deutlich, daß du im dürren 
Jahre 1842 auch Mangel littest. Denn dein Ring von jenem Jahre 
ist fehr, sehr ärmlich. Du hast dich dein Leben lang viel umgeschaut. 
Standest du etwa auf einer Feldkuppe als treuer Hüter der Ernte 
oder auf kahlem Felsrande? Frei standest du! Denn schon unten 
sehe ich die Stellen, wo die starken Aste abgehauen sind. Und 
zuletzt standest du auch einsam, nachdem du fast 200 Jahre einen 
lreuen Gefährten an deiner Seite hattest. Vor 8 Jahren riß man 
ihn von dir. Hat es der Sturm getan oder die Aut deines Herrn? 
Seitdem standest du ganz allein und strecktest deine knorrigen Äste 
hinaus in die warme Maienluft wie in den rauhen Nordsturm. Als 
dir der Nahrungssaft kärglich zufloß, da kamen wahrscheinlich auch 
die Schnitter bangen Herzens auf ihren Acker. Da waren auch 
die Halme dünn und die Ahren klein. Die alten Wirtschaftsbücher 
jenes Gutes, auf dessen Fluren du standest, würden zweifellos ebenso 
sprechen wie diese kümmerlichen Jahresringe deines Holzes. Oder 
war es der häßliche Vielfraß, die Kiefernraupe, die deine Nadeln
	        
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