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erwähnen, bis es eines Tags von ungefähr die Leute von sich
sprechen hörte, das Mädchen wäre wohl schön, aber doch
eigentlich schuld an dem Unglück seiner sieben Brüder. Da
ward es ganz betrübt, ging zu Vater und Mutter und fragte,
ob es denn Brüder gehabt hätte, und wo sie hingeraten wären.
Nun durften die Eltern das Geheimnis nicht länger ver¬
schweigen, sagten jedoch, es sei so des Himmels Verhängnis
und seine Geburt nur der unschuldige Anlaß gewesen. Allein
das Mädchen machte sich täglich ein Gewissen daraus und
glaubte, es müßte seine Geschwister wieder erlösen. Es hatte
nicht Ruhe und Rast, bis es sich heimlich aufmachte und in
die weite Welt ging, seine Brüder irgendwo aufzuspüren und
zu befreien, es möchte kosten, was es wolle. Es nahm nichts
mit sich als ein Ringlein von seinen Eltern zum Andenken, ein
Laib Brot für den Hunger, ein Krüglein Wasser für den Durst
und ein Stühlchen für die Müdigkeit.
2.
Nun ging es immer zu, weit, weit, bis an der Welt Ende.
Da kam es zur Sonne; aber die war zu heiß und fürchterlich
und verbrannte die kleinen Kinder. Eilig lief es weg ujid lief
hin zu dem Monde; aber der war gar zu kalt und auch grausig
und bös. Da machte es sich geschwind fort und kam zu den
Sternen; die waren ihm freundlich und gut, und jeder saß
auf seinem besondern Stühlchen. Der Morgenstern aber stand
auf, gab ihm ein Hinkelbeinchen und sprach: „Wenn du das
Beinchen nicht hast, kannst du den Glasberg nicht ausschließen,
und in dem Glasberge sind deine Brüder.“
Das Mädchen nahm das Beinchen, wickelte es wohl in
ein Tüchlein und ging wieder fort, so lange, bis es an den
Glasberg kam. Das Tor war verschlossen, und es wollte
das Beinchen hervorholen; aber wie es das Tüchlein aufmachte,
so war es leer, und es hatte das Geschenk der guten Sterne ver¬
loren. Was sollte es nun anfangen? Seine Brüder wollte es
erretten und hatte keinen Schlüssel zum Glasberge. Das gute
Schwesterchen nahm ein Messer, schnitt sich ein kleines
Dingerchen ab, steckte es in das Tor und schloß glücklich
auf. Als es hin ein getreten war, kam ihm ein Zwerglein ent¬
gegen, das sprach: „Mein Kind, was suchst du?“ „Ich suche
meine Brüder, die sieben Raben,“ antwortete es. Der Zwerg
sprach: „Die Herren Raben sind nicht zu Hause; aber willst