Full text: Deutsches Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

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Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, lieber Sohn, sondern 
wir müssen uns nach ihr richten. 
Was du sehen kannst, das sieh, und brauche deine Augen, und 
über das Unsichtbare und Ewige halte dich an Gottes Wort. 
Bleib der Religion deiner Väter getreu und hasse die theo— 
logischen Kannegießer. 
Scheue niemand so viel, als dich selbst. Inwendig in uns 
wohnet der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr 
gelegen ist, als an dem Beifall der ganzen Welt und der Weisheit 
der Griechen und Agypter. Nimm es dir vor, Sohn, nicht wider 
seine Stimme zu tun; und was du sinnest und vor hast, schlage 
zuvor an deine Stirne und frage ihn um Rat. Er spricht anfangs 
nur leise und stammelt wie ein unschuldiges Kind; doch wenn du seine 
Unschuld ehrst, löset er gemach seine Zunge und wird dir vernehm— 
licher sprechen. 
Lerne gerne von andern, und wo von Weisheit, Menschenglück, 
Licht, Freiheit, Tugend ꝛc. geredet wird, da höre fleißig zu. Doch 
traue nicht flugs und allerdings, denn die Wolken haben nicht alle 
Wasser, und es gibt mancherlei Weise. Sie meinen auch, daß sie 
die Sache hätten, wenn sie davon reden können und davon reden. 
Das ist aber nicht, Sohn. Man hat darum die Sache nicht, daß 
man davon reden kann und davon redet. Worte sind nur Worte, 
und wo sie so gar leicht und behende dahinfahren, da sei auf 
deiner Hut, denn die Pferde, die den Wagen mit Gütern hinter sich 
haben, gehen langsameren Schrittes. 
Verachte keine Religion, denn sie ist dem Geist gemeint“), und 
du weißt nicht, was unter unansehnlichen Bildern verborgen sein könne. 
Es ist leicht zu verachten, Sohn; und verstehen ist viel besser. 
Lehre nicht andere, bis du selbst gelehrt bist. 
Nimm dich der Wahrheit an, wenn du kannst, und laß dich 
gerne ihretwegen hassen; doch wisse, daß deine Sache nicht die Sache 
der Wahrheit ist, und hüte, daß sie nicht ineinander fließen, sonst 
hast du deinen Lohn dahin. 
Tue das Gute vor dich hin und bekümmere dich nicht, was 
daraus werden wird. 
Wolle nur einerlei, und das wolle von Herzen. 
Sorge für deinen Leib, doch nicht so, als wenn er deine 
Seele wäre. 
Gehorche der Obrigkeit, und laß die andern über sie streiten. 
Sei rechtschaffen gegen jedermann. 
Mische dich nicht in fremde Dinge, aber die 
mit Fleiß. 
Schmeichle niemand, und laß dir nicht schmeicheln. 
*) D. h. sie ist eine Sache des Geistes.
	        
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