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2. Da kam wohl über die Stiege
Mit leichtem Schritt herbei
Und trat an des Kindleins Wiege
Eine wunderschöne Fei.
3. „Dich will ich wohl bedenken,
Mein Kind, mit mächtigem Wort,
Ein Königreich dir schenken
In: tannendunklen Nord.
4. Verlaß im Stahlgeschmeide
Dein hohes Vaterhaus
Und 'ziehe weit liber die Heide,
Dein Reich zu suchen, aus!"
5. Da in der Gäste Mitte
Zur Wiege trat herbei
Mit leichtgeflügeltem Schritte
Eine andre schöne Fei.
6. „Dich will ich wohl bedenken,
Mein Kind, mit reicher Hand,
Ein Königreich dir schenken
Am südlichen Palmenstrand.
7. Du sollst deinen Rappen
zäumen,
Umgürten dir das Schwert
Und suchen in fernen Räumen
Das Reich, das ich beschert."
8. In stolzer Augenweide
Lächelten von dem Thron |
Die freudigen Eltern beide
Herab auf ihren Sohn. —
9. Und fragt ihr uad) dem Knaben,
Was Hohes er gewann? —
Da drunten liegt begraben
Ein greiser Bettelmann.
10. Sein Leben war zersplittert
Für dies, für das Idol,'
So wie die Nadel zittert
Vom Pol zum Gegenpol.
11. Kein Reich hat er erworben,
Verloren die Heimat dazu;
Er ist gestorben, verdorben —
Gott gebe der Seele Ruh!
Das Idyll.
70. Der siebzigste Geburtstag.
Von Joh. Heinrich V o ß.
Auf die Postille gebückt, zur Seite des wärnlendell Ofeus,
Saß der redliche Tamm in dem Lehnstuhl, welcher mit Schnitzwerk
Ulld braunnarbigein Jucht voll schwellender Haare geziert lvar.
Tanlm, seit vierzig Jahren in Stolp, dem gesegneten Freidorf,
5 Organist, Schulmeister zugleich und ehrsamer Küster,
Ter fast allen tm Dorf, bis auf luenige Greise der Vorzeit,
Einst Taufwasser gereicht und Sitte gelehrt uild Erkeimtlüs,
Tann zur Trauung gespielt und hinweg scholl manchen gesungen.
Oft nun falteild die Händ' unb oft mit lauteren: Murmeln
w Las er die tröstenden Sprüche und Erlnahnungen. Aber allmählich
Lehmann, Teutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten. IV. Teil. (Ober-TerNa.) 7