Full text: Deutsches Lesebuch für mittlere Gymnasialklassen und Realschulen

I. Beschreibende Prosa. 
1. Die Halligen. 
Von J. C. Biernatzki. 
An der Westküste des Herzogthums Schleswig finden sich, umfluthet 
von den Wogen der Nordsee, mehrere Inseln, die als Ueberreste einer 
zusammenhängenden Landstrecke, welche dem Meere zum Raube geworden 
ist, den Bewohner des festen Küstenlandes daran erinnern, sich mit allen 
ihm zu Gebote stehenden Mitteln der Fluthen zu erwehren. 
Die größeren dieser Eilande sind theils durch Deiche (künstliche See⸗ 
dämme), theils durch Dünen (natürliche Höhen von Meersand) vor den 
Wogen geschützt, die, täglich mit Fluth und Ebbe kommend und gehend, 
immer neue Versuche zu machen scheinen, die letzten Brocken ihres großen 
Raubes in den gierigen Schlund des Meeres hinunterzuziehen. Bei der 
Ebbe geht die See so weit zurück, daß ein meilenweiter weicher Schlick⸗ 
grund bloßgelegt wird, der noch in kräuselnden Zügen das Bild der 
Wogen darstellt, die ihn vor wenigen Stuuden überflutheten. Einzelne 
Rinnen und andere Senkungen werden aber auch dann nicht wasserleer, 
und besonders winden sich, für jene Zeit sichtbar, rings um die Inseln 
die mit einander und mit dem zurückgewichenen Ocean zusammenhängen— 
den, sogenannten Tiefen, gleichsam Schlangenarme, mit denen der eine 
Zeit lang an andern Gestaden kämpfende Riese die nie vergessene Beute 
umschlungen hält, daß sie nicht einen Augenblick der Hoffnung sich über— 
lasse, von ihm aufgegeben zu sein. Diese Tiefen, welche dem einsamen 
Wanderer, der auf dem weichen, seinem Fußtriit für eine kurze Zeit 
überlassenen Meeresgrunde Krabben, Rochen oder einen von dem schnellen 
Abfluß der Wogen überraschten Seehund sucht, auch bei der hohlsten Ebbe 
unüberschreitbare Grenzen setzen, verhindern die Verbindung zwischen 
den Inseln zu Lande selbst dann, wañn sie am scheinbarsten ist. Nur 
einzelne kleinere Eilande erfreuen sich beim Rückgang des Meeres einer 
kurzen Gemeinschaft mit einander oder mit dem festen Lande, auch ohne 
das umständliche Mittel der Schifffahrt; aber wehe dem Wanderer, der 
zuviel dem trügerischen Riesen vertraute! Dieser kehrt oft mit ungewöhn— 
licher Schnelligkeit zurück, führt den Nebel mit sich als Bundesgenossen, 
und der Schlickläufer, so nennt man den, welcher die Ebbe zu größeren 
Wanderungen benutzt, sieht das heimische Gestade vor seinen Blicken 
verschwinden, er fühlt die Fluth um seine Füße spielen, Entsetzen sträubt 
sein Haar bei diesem Spiel; er eilt mit Todesaugst vorwärts, die schon 
ganz gefüllten Rinnen versperren seinen Weg; er wendet sich seitwärts, 
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