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im Wirtshause zechten und sich lustig machten, erzählten sie die ganze
Geschichte, und Montags morgen, als sie anfuhren, war kein Ol mehr aus
der Lampe, und sie mutzten nun jedesmal wieder wie die andern frisch
aufschütten. Brüder Grimm.
121. Die Roßtrappe.
1. Zn jenen finstern Zeiten, wo noch Riesen und Zwerge und Zau¬
derer auf der Erde wohnten, hauste im Böhmerwalde ein Recke, Bodo
genannt, der Riesen allerstärkster und gewaltigster. Die Völker der Franken
und Böhmen beugten sich seiner Macht und gehorchten seinen Winken und
Befehlen. Niemand wagte es, seinem Willen zu widerstreben.
Einst sah er die schöne Emma, die Tochter des Königs vom Riesen¬
gebirge, und ihre Anmut und Lieblichkeit gefielen ihm so sehr, datz er
sie zu seiner Gemahlin zu erheben beschlotz. Emma aber lachte des unge¬
schlachten Necken, und er konnte sie nicht bewegen, ihm freiwillig ihre
schöne Hand zu reichen. Da dachte er denn auf List und Gewalt und
beschlotz, bei erster Gelegenheit die Königstochter zu rauben.
2. Eines Tages jagte Emma auf ihrem vogelschnellen Rosse in den
Schluchten und Tälern des Gebirges, und Bodo bemerkte es. Sofort
sattelte er seinen Hengst, schwang sich hinauf und schwur bei allen bösen
Geistern, die Prinzessin zu fangen, selbst mit Gefahr seines Lebens. Schnell
wie der Sturmwind brauste er heran. Emma, in ihrer Iagdfreude, be¬
merkte das Nahen des Unholdes nicht, bis sie endlich seinen Hengst schnauben
hörte, sich umsah und zu ihrem Schrecken den Niesen erblickte, der sich
bereits auf eine kurze Strecke ihr genähert hatte. Wenn sie sich nicht
gutwillig ergeben wollte, so mutzte sie ihr Heil in der Flucht suchen.
Der Niese, seines Fanges schon sicher, jauchzte laut vor Freuden; Emma
aber vertraute auf die Schnelligkeit ihres Rosses. „Fliege hin, mein Rötz-
lein!" sagte sie, indem sie ihm freundlich den blanken Hals klopfte, „fliege hin
und säume nicht; denn jetzt gilt es Tod oder Leben deiner Herrin."
3. Und indem sie dem edlen Zelter die Sporen in die Weichen drückte,
setzte sie sich fester in den Satte! und flog dahin wie von den Schwingen
eines Adlers getragen. Schon flogen die letzten Berge des Riesengebirges
vorüber, und fort ging es weiter und weiter über weite Ebenen, über
Büche und Flüsse, über reitzende Ströme. Da steigen schon die Berge
des Thüringer Waldes empor. Im Nu sind sie erreicht. Hinauf, hinab
braust das Rotz in vollem Jagen. Ohne zu ermatten, rennt es weiter
und weiter über fruchtbare Fluren dem Harze zu. Endlich steht es still.
Vor ihm gähnt ein Abgrund, wohl 300 Meter tief, Felsen hüben und
drüben, in entsetzlicher Schroffheit senkrecht abfallend in die Tiefe. Von
unten her dringt ein entsetzliches Rauschen in die Höhe. Die Wellen der