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Gerichte) sich umgewandelt, daß sie Christo angehört, und der gute
Engel siegt über die angestrengte Macht des Bösen. So stellt der
tieffühlende Meister des Bildes mitten in die Schauer des Gerichts
die Tröstungen unserer Religion, die dem reuigen Sünder Gnade
verheißt.
Einen König sehen wir von zwei Teufeln durch die Luft ge¬
tragen, in dem wir — wenn er nicht speciel als Herodes zu deu¬
ten — überhaupt gekrönte Tyrannei zu erkennen haben.
Ehe wir nun zu den Seligen hinübergehen, verweilen wir vor¬
dem Hüter des Reiches Gottes, dem Erzengel Michael, der in
römischer Rüstung, mit dem Diadem geschmückt, mit erhobenem
Schwert und erhobenem Schild Wache hält. Weder zur Rechten
noch zur Linken gewendet, bildet er die eigentliche Scheidewand
zwischen Guten und Bösen. Unter der Wolke, auf der er steht,
langt ein raubgieriger Teufel nach einem Menschen, der sich flehend
an den nächsten Engel wendet um Ausnahme in das Reich Gottes.
Der Engel deutet allerdings mit dem Schwert nach der Seite des
Verdammten, allein sein Ausdruck ist nicht Vernichtung, und so er¬
scheint die bloße Angst vor der Hölle als die Strafe des sündigen
Menschen.
Nun zu den Seligen: sie bilden einen Reigen, von Engeln
durchwoben; sie halten sich an Händen gefaßt, umarmt, umschlungen
und auf alle Weise zart und innig vereint. Die Richtung ihres
Flugs ist eine doppelte, aufwärts und einwärts, so daß sie sich
in die Tiefe der Höhe verlieren. Aller Blicke sind in seliger Ent¬
zückung nach oben gerichtet, und doch sind sie schon Genoßen des
Glücks, das sie erwartet: Anbetung und Gottesfriede ist der Hauch,
der sie trägt. Es ist kein Unterschied unter ihnen, kein Verdienst
hat sie selig gemacht; was sie sind, sind sie durch die freie Gnade
Gottes, und wie viele Beziehungen die Schrift auch erlaubte (z. B.
in der Bergpredigt), der eine große Gedanke göttlicher Erbarmung
blieb das Hauptmotiv. Nur einer geschichtlich bezeichneten Gestalt
begegnen wir bei den selig Ausschwebenden: der Dichter ist es,
dessen wunderbare Phantasie uns die Pforten der Ewigkeit aufge-
than und ohne den ihr Bild dem christlichen Dichter sich nicht
vollendet, Dante.
Ed. Förster.
74. Die Madonna Sixtina von Rafael.
Die höchste Verklärung erreichte Rafael in der weltberühmten
Sixtinschen Madonna, welche um 1518 für die Kirche S. Sisto
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