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lein zwischen dem römischen Germanien und dem Germanien, das dauernd
frei geblieben. Den Unterschied, den die Jahrhunderte der römischen Zeit
in deutsches Gebiet getragen haben, hat ein Jahrtausend deutscher Geschichte
Glicht zu verwischen vermocht. Er wirkt durch das Mittelalter ftnt, ja er ^
wirkt in gewissem Sinne bis heute.
76. Einwirkung der Wanderzeit auf den germanischen
kseldencharakter.
Gustav Freytag.
Die Seele der Germanen wurde nicht in gleicher Weise wie die des
Südländers durch die Leidenschaft der Stunde und die Macht der Situation
ausgefüllt; immer blieb etwas in ihm übrig, was die Bewegung zit be¬
herrschen suchte und über den Augenblick hinweg Vergangenes und Zukünf¬
tiges erwog. Wenn er sich in einer Stimmung zu starkem Ausdruck bringen 10
wallte, mußte er vorher sein Wesen steigern, und solche Steigerung wirkte
wie ein Rausch, der die ruhige Klarheit seines Urteils aus Stunden dämpfte,
selten den abwägenden Sinn auf die Länge beherrschte. Wenn die Germanen
Mr Schlacht zogen, so taten sie dies in einer Kampfeswut, welche stark abstach
von der harten Ruhe des krieggeübten Römers. Der Haß des Deutschen 15
brach heftig heraus, übel gebändigt durch die darüber schwebende Empstn-
düng, daß es seine Pflicht sei, höflich zusein; der Haß des Südländers barg
sich klug hinter dem Gedanken, daß es für die Rache zweckmäßig se: sich zu
verstellen, und er flammte, lange bewahrt, im entscheidenden Augenblick nnt
höchster pathetischer Gewalt hervor. , , ^0
Das Bedürfnis des Deutschen, sich bei feindlicher Tat zu steigern und
dem Gegner überlegen zu erweisen, macht den Helden vor dem Kampfe
deredt; er strebt danach, den Gegner in Zorn zu bringen. Deshalb reizen
einander die Krieger vor der Schlacht, die Helden der Sage vor dem nmps.
Der grimme Hohn, welcher den Gegner traf, wurde höchlich bewundert 25
Wenn zwei Heere in Rufnähe standen, klangen herausfordernde Worte aus
einem in das andere, Belagerer riefen zu den Belagerten lange Sche tu en
auf die Mauer, und von oben schallte die Antwort hinab. Die Volker warfen
einander arge Anekdoten vor, einzelne Schlachthelden ihre Untaten o er
demütigende Momente ihres Lebens. Wenn der römische Feldherr einen
geheimen Angriff maskieren will, etwa vor einer belagerten Stadt, so M
ein wirksames Mittel, daß er einen seiner germanischen Offiziere, eer ee
Schlachtenhohns Meister ist, ärgerliche Worte gegen die Belagerten schreien
läßt. Die lebhafte Teilnahme, welche das lange fortgesetzte S®ortgcfecl)t er-
regt, vermindert die Aufmerksamkeit der Feinde. In den nordischen )e een-