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I. Abschnitt. Welt des Geistes
Oie dramatische Kunst hat immer etwas Plastisches an sich,
sie ist lebendiges Gemälde oder eine Statuengruppe, bewege sich
dieselbe nun wirklich vor unseren Augen oder in unserer Phantasie.
Die Lyrik hat immer etwas Musikalisches an sich und lässt
immer einen gewissen Gesang mittönen, werde dieser nun wirklich
vorgetragen, oder ertöne er nur in uns als eine innerliche Beglei¬
tung, ein Mittönen der Seele zum Liede.
Das Epos als eine fortfliessende, ausgebreitete Historie, Mär¬
chen, Roman, hat die Spannung seines Interesses in dem Fort¬
gänge der Begebenheiten, dessen Darstellung der Rede eigentüm¬
lich angehört und ausser dem Bereiche der übrigen Künste liegt.
Die genannten drei reinen poetischen Grundtypen setzen sich
dann gegen das Mittelalter hin weiter fort; die hebräische Poesie
im Koran, die Würde griechischer Plastik in den Hymnen der
christlichen Kirche und die indische Zerflossenheit nebelhafter Ge¬
stalten wiederholt sich wie in einem fernen Spiegelbilde im phan¬
tastischen Ossian. Nur sind in diesen Wiederholungen die Charak¬
tere schon einigermassen verschmolzen. Denn im Koran zeigt sich
die herzergreifende Lyrik schon mehr phantastisch geworden und
zur Phantasie sprechend. Der phantastische Ossian liebt oft
Form und Charakter des reinen Dramas, und hebt sich in seinen
Klagen bis zu psalmenähnlichen Herzerschütterungen, und in dem
triumphierenden Stolz altchristlicher Kirchenpoesie herrscht als Seele
die Zerknirschung der Psalmen.
Dagegen tritt in der modernen Poesie eine neue Basis ein,
welche den Angelpunkt bildet, um den sich alle Idealentfaltung
dreht, und den Augenpunkt, aus welchem die Perspektive eines
jeden Schönheitsgemäldes begriffen sein will. Dieses moderne Grund¬
ideal entsteht, wenn sich die drei Urtypen der alten Poesie ganz
und untrennbar in eins verschlingen.
Charakteristik der antiken Ideale.
Von C. Fortlstge: Vorlesungen über die Geschichte der Poesie.
Ein passendes Bild von den drei antiken Schönheitsidealen
kann man sich, durch eine Vergleichung aus der Malerei ent¬
werfen.
Das plastische Ideal macht einen ähnlichen Eindruck, wie wenn
der Maler ein helles Licht von vorn in eine gemalte Landschaft
fallen lässt. Da erscheinen die Gegenstände heiter, weil die
Schatten rückwärts hinter sie fallen und sich dem Auge entziehen.
Es entsteht ein heller Ton, und die Aufmerksamkeit ruht auf den
objektiven reinen Gestalten. Einen hiezu stimmenden Eindruck
macht die Natur am meisten auf uns am Morgen und Mittag, bei
ungetrübtem Himmel und einem reinen scharfen Winde, wie der
Nordwind ist. Reines ungetrübtes Licht ist dieser Charakter.
Volle Tagesbeleuchtung.
Lässt dagegen der Maler das Licht von der Seite fallen, so ent¬
stehen starke, horizontale Schatten auf dem Gemälde, streifige