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20 dunkeln Kammer der Nacht. Siehe! nun schwebt sie rund und
schön und golden, von feinem Morgenduft umwoben, über dem
Hügel. Geblendet kehrt das Auge sich ab. Nach kurzem Kamps
mit dem wallenden Nebel wird sie Siegerin. Wie mit einen:
Zauberschlage weckt sie Leben, Klang, Glut und Klarheit. Schon
25 strahlen im 'Morgengolde die Wipfel der Tannen und der Kirch¬
turm des Dorfes. Feld- und Gartenblumen wenden die tauschweren
Kelche der Lichtbringerin zu und begrüßen sie mit süßen Düften.
Der Wald ertönt von Liedern. An allen Gräsern, Flechten, Moosen
funkeln Millionen glänzender Perlen. Farben, Klänge und Düfte
30 loben den Herrn, vor allen das Menschenherz.
4. Was rauscht im Wiesental und schimmert so silberhell im
Glanze der Morgensonne? Es sind die blitzenden Sensen der Mähder,
die schon vor Tagesanbruch an die schwere Arbeit gegangen sind.
In gewaltigen Zügen mähen sie das hohe, taunasse Gras nieder,
35 aber mit ihm auch die lieben Blumen: die gelben Schmalz- und
Kuhblumen, den weißen Wiesenkümmel, die rote Pechnelke, die zier¬
lich braunen Glocken des Siebenfingerkrauts, und wie sie alle heißen,
die Sternchen und Glöcklein, die zur Wiesenflora des Sommers
gehören. Jetzt rücken die kräftigen Mähder in ihren weißen Hemd-
40 ärmeln und roten Westen regelmäßig vorwärts, jetzt stehen sie still,
die Sensen zu wetzen. Wer zurückbleibt in der friedlichen Schlacht¬
reihe, wird geneckt-und muß sich manchen derben Scherz gefallen
lassen. Hinter den Mähdern breiten Mädchen das gemähte Gras
auseinander und streuen es in die Luft und kehren es fleißig um,
45 daß es mit steigender Sonnenhitze trockne.
5. Es ist Mittag. Schon lange hat die Sonne den Tau
aufgezehrt; vom wolkenlosen Himmel entsendet sie glühenden Brand.
Es ist still und öde auf Feld und Flur. Auch die Schafe weiden
nicht mehr; die Köpfe nach unten zusammengesteckt stehen sie eng
50 gedrängt beieinander. Der Schäfer hat sich in den Schatten einer
Buche hingestreckt; die Hand unter dem Haupte ist er in Mittags¬
schlummer gesunken. Neben ihm sitzt der treue Hund; auch er hat
den Kopf gesenkt und läßt seine rote Zunge lechzend zwischen den
weißen Zähnen heraushängen. Doch vergißt er nicht, von Zeit zu Zeit
55 einen wachsamen Blick nach der ruhig stillen Herde hinüberzuwerfen.
6. Die Mähder haben längst ihre Sensen beiseite gelegt, die
Mädchen ihre Rechen in den Grasboden gesteckt. Man sieht sie